So ambitioniert wie die Mondlandung
Die Klimakrise ist die vermutlich grösste Herausforderung der Menschheit. Google sieht sich in der Pflicht, einen Beitrag zur Lösung zu leisten. Die Entwickler Patrik Reali und Noel Gorelick aus dem Zürcher Büro arbeiten daran – mit der Google Earth Engine und einer Suchfunktion für emissionsarme Flüge
Wenn es um die Klimakrise geht, gibt es nichts zu beschönigen. Jegliche Versuche, den weltweiten Ausstoss von Treibhausgasen nachhaltig und massiv zu reduzieren, sind bislang gescheitert. Auch die Politik drückt sich davor, Lösungen durchzusetzen.
Es ist eine Mammutaufgabe, die nur gelingen kann, wenn jeder seinen Teil beiträgt: Velo fahren statt Auto zum Beispiel. Oder Economy Class fliegen statt Business Class. Eine kleine Entscheidung für eine einzelne Person – die einen gewaltigen Unterschied machen kann, wenn Millionen von Menschen sich ihr anschliessen. Nutzer*innen befähigen, klimafreundliche Entscheidungen zu treffen – das ist eine Weise, wie Google versucht, seinen Teil zu einer nachhaltigeren Welt beizutragen.
Die andere Weise betrifft Google selbst: Bis 2030 sollen alle Rechenzentren des Unternehmens ausschliesslich mit CO2-freier Energie betrieben werden. Wie das gehen soll? Die Antwort steht noch aus, gesteht selbst Google-Chef Sundar Pichai: Das Ziel sei so ambitioniert wie die Mondlandung.
Wie kann Reisen nachhaltiger werden?
An dieser Reaktion tritt das Selbstverständnis eines Unternehmens zutage, das seinen Mitarbeitenden mehr als nur die naheliegende Lösung abverlangt. Patrik Reali aus den Zürcher Google-Büros kennt den Anspruch seines Arbeitgebers aus nächster Nähe. Als Engineering Manager treibt er mit seinen Teams verschiedene Projekte voran. Unter anderem beschäftigt er sich mit der Frage, wie Reisen nachhaltiger werden kann: Eines von Realis Teams entwickelt Google Flights weiter, die Suchmaschine für Flüge. Eines Tages, nach einem Vortrag, entspann sich eine Diskussion dazu, ob es nicht denkbar wäre, in den Google-Flights-Resultaten auch Zugverbindungen zu zeigen – oder gar die Emissionen eines einzelnen Fluges? „So entstand das Projekt, ganz spontan, indem wir sagten: Das probieren wir.“
Patrik Reali ist das Erstaunen über die Entstehungsgeschichte der neuen Anwendung noch immer anzumerken. Wer heute mit Google nach passenden Flügen sucht, sieht Hinweise zu den entstehenden Emissionen – und ob ein bestimmter Platz in einem Flugzeug emissionsärmer als ein anderer ist. Doch von vorne.
„Anders als bei einem Auto, für das ich leicht nachlesen kann, dass es 5,1 Liter pro 100 Kilometer verbraucht, sind die Daten in der Flugzeugindustrie streng vertraulich.“
Patrik Reali
In einem kleinen Team aus Freiwilligen wälzten Reali und seine Kolleg*innen die Frage, woher sich die Daten für die geplante Applikation nehmen liessen. „Anders als bei einem Auto, für das ich leicht nachlesen kann, dass es 5,1 Liter pro 100 Kilometer verbraucht, sind die Daten in der Flugzeugindustrie streng vertraulich.“ Die Entwickler*innen testeten vorhandene CO2-Rechner und staunten, wie unterschiedlich die Annahmen waren, die ihnen zugrunde lagen – und wie verschieden ihre Ergebnisse. Mit Mühe und Beharrlichkeit liessen sich erste Informationspakete auftreiben. Patrik Reali erkannte, durchaus naheliegend, dass neuere Flugzeuge weniger Kerosin verbrennen als ältere. Platzsparende Economy-Sitze schneiden mit Blick auf die durchschnittlichen Emissionen besser ab als raumgreifende Businessclass-Sessel. Weil beim Start besonders viel Kerosin verbrennt, fallen bei Kurzstreckenflügen mehr Emissionen an. „Sogar die Biegung der Flügelspitzen eines Flugzeuges beeinflusst seinen Kerosinverbrauch“, sagt Patrik Reali. Schritt für Schritt und viele Rechenoperationen später näherte sich sein Team dem an, was sich als verlässliche Schätzung zum CO2-Fussabdruck einer Person auf einem bestimmten Flug auf einem bestimmten Platz formulieren lässt.
Noel Gorelicks Projekt wirkt im Vergleich zu Patrik Realis Arbeit schon etwas gereifter. Gorelick arbeitet seit 15 Jahren bei Google, erst in der Zentrale im kalifornischen Mountain View, später zog er samt Familie aufs Land nahe Zürich und wurde Teil der Schweizer Google-Community. Gorelick entwickelte die Google Earth Engine, eine Website, die Satellitenbilder aus mehr als 50 Jahren menschlicher Geschichte vorhält. Mit der Google Earth Engine lassen sich bildliche Zeitverläufe erstellen und Fragen beantworten: Wie entwickelte sich die Abholzung der Wälder im südamerikanischen Regenwald? Wo und wie schnell schreiten Wüsten in Afrika voran? Wie entwickelt sich die Siedlungsstruktur in der Schweiz?
Noel Gorelick studierte Informatik und arbeitete an der Universität von Arizona immer wieder für die NASA. Insgesamt begleitete Gorelick fünf Mars-Missionen, eine Saturn-Mission und eine Mond-Mission. „Für das erste Mars-Projekt war ich sozusagen die gesamte Computerabteilung: Ich baute die Computer, ich hielt sie am Laufen, ich schrieb die Software.“ Gorelick und sein Team entwickelten die Software, mit der die Mars-Rover in Kontakt zu den Ingenieuren auf der Erde blieben, er kümmerte sich um die Software, die auf dem Mars nach Wasser suchte.
Ein Auftrag nach Gorelicks Geschmack
Dann entstand ein Kontakt zu Google, wo gerade Google Maps entwickelt worden war. Gorelick war Experte für die Vermessung des Mars, des Saturns und des Mondes und sollte so etwas wie Google Mars entwickeln – ein Auftrag nach Gorelicks Geschmack. Eines Tages kam eine Kollegin zu ihm und sagte, sie wolle Google Tree entwickeln, eine gigantische Karte, auf der jeder Baum der Erde verzeichnet sei. „Und genau das haben wir gemacht“, sagt Noel Gorelick. „Wenn Sie sich die Google Earth Engine anschauen, sehen Sie genau die Bestandteile, die wir damals entwickelt haben.“
Seit vielen Jahren nun firmiert Gorelick sehr klangvoll als „CEO“, in diesem Falle als „Chief Extraterrestrial Observer“. Er reist als „Pathfinder“ durch die Welt und vermittelt Forschungsgruppen die Chancen und Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn sie mit den Zeitreihenbildern der Google Earth Engine ihre Forschungen ergänzen oder erweitern. Das Schweizer Start-up Restor zum Beispiel erkundet damit, in welchen Regionen zum Zwecke des CO2-Offsettings Bäume gepflanzt werden könnten. Das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum untersucht mit den Satellitenbildern die Siedlungsentwicklung. Die Vereinten Nationen verwenden das Wissen aus der globalen Wasserkarte, damit Länder erkennen können, wie stark der Meereslevel im Rahmen der Klimakrise steigen könnte. Zurzeit arbeitet Gorelick mit NGOs in Kolumbien, Indonesien oder Costa Rica, wo Menschen gegen die Abholzung des Waldes kämpfen. „Google fühlt sich seit seiner Gründung der Nachhaltigkeit verpflichtet“, sagt Noel Gorelick. „Die Google Earth Engine ist ein Projekt, mit dem Google dieser Selbstverpflichtung nachkommt.“
Fotos: Yves Bachmann; Illustration: Birgit Henne; Screenshots: Google