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Vom Wert eines zweiten Bildungssystems

Wie könnte das Lernen der Zukunft aussehen? Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger. Sie wünscht sich durchlässige Lebensverläufe und mehr digitale Weiterbildung

Frau Allmendinger, Sie haben im Rahmen der Vermächtnisstudie erkundet, was die Deutschen von ihrer Zukunft erwarten. Welches der Ergebnisse hat Sie überrascht?

Wir haben 3200 Menschen zwischen 14 und 80 Jahren nach ihrem Vermächtnis gefragt, unter ihnen 800 Migranten. In ihren Wünschen und Hoffnungen liegen diese Menschen viel enger beisammen, als man es annehmen würde.

Das bedeutet?

Menschen mit niedriger Bildung teilen die Zukunftswünsche von Menschen mit höherer Bildung. Das ist ein überraschendes und positives Ergebnis: Die Menschen mit niedriger Bildung fühlen sich nicht in einer Weise abgehängt, dass sie nichts mehr von der Zukunft erwarten würden. Sie sagen: Wir müssen unseren Kindern mehr mitgeben und mehr Wert auf Bildung legen.

Welche Rolle könnte die Digitalisierung dabei spielen?

Die wird in erster Linie den besser Gebildeten zugute kommen. Die Nutzung digitaler Medien im Bildungsbereich muss deshalb begleitet werden. Nur dann kommt sie da an, wo wir sie brauchen.

Sind die Jüngeren gegenüber der Digita­lisierung aufgeschlossener?

Natürlich sind die Jüngeren Digital ­Natives. Gleichzeitig tendieren gerade sie zur Selbstkritik und würden ihren Kindern zu Vorsicht im Umgang mit ­digitalen Medien raten. Ältere Personen wünschen sich hingegen so schnell wie möglich ein Schulfach zur Digita­lisierung.

Weil sie ihre eigene Überforderung spüren?

Ja, sie haben den Eindruck, von der technologischen Entwicklung abgehängt zu sein.

Die einen tun sich schwer, mit dem digitalen Wandel Schritt zu halten, die anderen haben Probleme, die neuen Werkzeuge entsprechend zu nutzen. Wie integriert man diese unterschiedlichen Bedürfnisse in unser Bildungssystem?

Wir haben bislang ein System, das gleich zu Beginn alle Bildung in die Menschen kippt. Danach sollen sie 45 Jahre arbeiten, um eine austrägliche Rente zu erreichen. Hier liegt das Pro­blem: Ich empfehle eine neue Aufteilung der bisher üblichen drei Blöcke Ausbildung, Arbeit, Ruhestand.

In welcher Form?

Wir müssen ein zweites Bildungssystem aufbauen, das wir nach etwa 15 Jahren Erwerbstätigkeit wieder besuchen. Die Umbrüche während eines Lebens sind mittlerweile so groß, dass wir an eine zweite oder gar dritte Berufsausbildung denken müssen.

Aber wie sollte man das organisieren?

Unsere Lebenserwartung bei guter ­Gesundheit steigt. Wenn wir von etwa 55 Jahren zwischen dem ersten Eintritt in den Arbeitsmarkt und dem letzten Austritt aus dem Arbeitsmarkt ausgehen, könnte jeder von uns Ziehungsrechte für insgesamt zehn Jahre in diesem Zeitraum erhalten. Es wäre also keine Verlängerung der Arbeitsdauer, nur eine andere Ordnung.

Was ist ein Ziehungsrecht?

Ich bekomme zum Beispiel ein Ziehungsrecht für eine oder zwei einjährige Weiterbildungen oder für die Betreuung von Kindern und Eltern oder schlicht für eine Pause vom Berufsleben.

Ein Kurzruhestand mitten im Leben.

Genau. Wobei diese Zeiten ja auch oft Unruhezustände sind. Unsere Studie stützt massiv die Annahme, dass die Menschen sich unterbrochene, durchlässige Lebensverläufe wünschen. Viele möchten, dass wir das an überkommenen Geschlechterrollen orientierte So­zialmodell zur Seite legen. Klar, man müsste über die Finanzierung der Ziehungsjahre sprechen, vielleicht in Form eines bedingten Grundeinkommens.

Welche Vorteile hätte ein zweites Ausbildungssystem?

Viele. Bleibt man bei dem zunächst gewählten Beruf, eignet man sich die neuen Entwicklungen an. Stirbt der Beruf aufgrund technologischer Entwicklungen aus, oder ist es zu belastend, um ihn 45 Jahre lang auszuüben, erlernt man einen neuen. Ich verbinde aber noch eine weitere Hoffnung damit: erweiterte Netzwerke, das Miteinander unterschiedlicher Menschen, die sich sonst nie treffen würden. Wenn wir auf solche Begegnungsmöglichkeiten verzichten, verstehen sich die unterschied­lichen Personenkreise nicht mehr und finden keine gemeinsamen Themen. Daher trete ich auch für einen Zivildienst für alle ein.

Was erwarten die Menschen von ihrem Arbeitsleben?

Sichere, interessante und einträgliche Jobs. Aber auch soziale Kontakte und Nähe. 55 Prozent der Menschen wären auch dann erwerbstätig, wenn sie das Geld nicht bräuchten. Der Grund: Die Menschen möchten auch außerhalb des privaten Raums mit anderen in Beziehung treten. Das müssen wir bei der Digitalisierung des Lernens bedenken: Auch dort brauchen wir Menschen in der Vermittlung von Wissen.

Aber dienen die digitalen Handwerkszeuge nicht der Ermächtigung des Einzelnen, der dann im eigenen Tempo lernen kann?

Für viele ist das digitale Lernen eine ­extrem hilfreiche Ergänzung. Es braucht aber die Verzahnung zwischen Virtualität und Realität. Ich habe selbst Massive Open Online Courses eingesetzt – meine echten Vorlesungen waren immer besser bewertet. Die Möglichkeiten der Rückfragen sind größer, und ich sehe, wer nicht mitkommt.

Wie kann man dafür sorgen, dass alle auf dem digitalen Stand der Dinge bleiben?

Alle paar Jahre bekomme ich einen Aufruf zum Mammografie-Screening. Ich wäre konsequent und würde in Analogie dazu ein Zertifizierungswesen einführen: Alle paar Jahre kommt eine Aufforderung zur präventiven Bildung. Man geht hin, loggt sich ein und sieht, wo man vor fünf Jahren stand. Dort knüpft man an.

Wie beim Auffrischungskurs in Erster Hilfe.

Die große Gefahr ist doch, dass die Leute irgendwann nicht mehr miteinander reden können. Alles ist digital getrieben, aber nur ein Teil der Gesellschaft versteht die Hintergründe. Da mache ich mir als Sozialwissenschaftlerin Sorgen: Eine gemeinsame Bildung macht eine gemeinsame Gesellschaft aus.

Im Grunde sprechen Sie vom lebenslangen Lernen in Reinform.

Aber der Stressfaktor ist kleiner, wenn der Staat die Möglichkeiten schafft, das Lernen in den Lebensverlauf zu integrieren. Und wenn man weiß, was eigentlich zu erlernen ist. Alle sollten verstehen, wie immer neue Apps und soziale Medien funktionieren, wie man eine Suchmaschine bedient. Wir müssen das Wissen um die Digitalisierung zum Gemeingut machen. Nur dann können wir auch bewusst damit umgehen.

Fotografie: Charlotte Schreiber

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