Stadt der Chancen
Als Start-up-Metropole hat sich Berlin weltweit einen Namen gemacht. Doch auch Mittelständler, Kulturszene und Sozialwesen der Stadt nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung
Es war ein spannender Wettbewerb, der jahrelang auf den Straßen Berlins und anderer Metropolen ausgetragen wurde – und kurz vor Weihnachten endete. Es ging dabei um Essen, genauer gesagt um Lieferdienste, die Großstädtern ihre Lieblingsgerichte vom Restaurant direkt in die Wohnung bringen. Auf der einen Seite das Berliner Start-up Delivery Hero, bekannt geworden mit Marken wie Foodora und Lieferheld, auf der anderen das niederländische Unternehmen Takeaway.com, zu dem etwa Lieferando gehört. Der Deal, der das Wettrennen auf Plakaten, in der TV-Werbung und auf den Lieferfahrrädern entschied, war ein Kaufvertrag: Für knapp eine Milliarde Euro schlug Takeaway.com zu – und übernahm zwar nicht den Konkurrenten, aber zumindest dessen Deutschlandgeschäft.
Wirtschaft: Schillernde Einhörner und zögernde Mittelständler
Was manche als Niederlage für Delivery Hero werteten, kann man auch als eindrucksvollen wirtschaftlichen Erfolg werten. »Wir haben ein deutsches Einhorn geschaffen«, sagte Delivery-Hero-CEO Niklas Östberg, der nun von Berlin aus noch mehr in seine Ableger in Asien, Südamerika und im Nahen Osten investieren will. Ein »Einhorn« ist das Fabelwesen aller Gründer. In der Start-up-Szene nennt man so junge Unternehmen, die mindestens eine Milliarde wert sind. In Berlin gibt es gleich mehrere Exemplare dieser seltenen Gattung, den Modehändler Zalando zum Beispiel oder die Onlinebank N26. Diese Ballung überrascht nicht, denn Berlin ist eindeutig die digitale Gründerhauptstadt Deutschlands. »2017/18 wurden hier mehr digitale Start-ups gegründet als in Hamburg, München und Frankfurt zusammen«, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller stolz.
Die Stärke der jungen Vorreiter spiegelt freilich nicht zwangsläufig wider, wie gut die Berliner Wirtschaft insgesamt digital aufgestellt ist. Tatsächlich steht sie nur etwas besser da als der Rest des Landes: Während im Bundesdurchschnitt 66 Prozent aller Unternehmen Webauftritte haben, sind es in Berlin 69 Prozent, auch der Anteil der Firmen, die mit Cloud-Technologie arbeiten, ist in Berlin mit 23 Prozent höher als der bundesweite Wert von 19 Prozent. Die Zahlen stammen von dem promovierten Ökonomen Anselm Mattes, der für eine im Februar 2019 veröffentlichte Studie der DIW Econ im Auftrag der Berliner Sparkasse rund 500 Kleinunternehmer und Mittelständler aus der Bundeshauptstadt befragt hat. »Fast alle Branchen bewerten den Stand der Digitalisierung innerhalb ihrer Unternehmen schlechter als die Befragten vom Vorjahr«, sagt der Wissenschaftler, demzufolge es in der Breite der Berliner Wirtschaft digital längst nicht so gut läuft wie in der Spitze mit ihren Start-ups und Konzernen.
Ein Grund für die technologische Lücke zwischen digitalen Stars und klassischen Mittelständlern ist – ausgerechnet – die gute Konjunktur. »Wenn das herkömmliche Geschäft gut läuft, ist der Druck, sich zu verändern, nicht so groß«, erläutert Mattes und nennt das boomende Baugewerbe als Beispiel: »Hier schätzen 20 Prozent der Befragten den Stand der Digitalisierung schlechter ein als im Vorjahr.« Noch stärker ins Gewicht fällt aber Zeitknappheit, das am häufigsten genannte Hindernis für digitale Transformation. »Die Betriebe haben das Thema und seine Wichtigkeit durchaus auf dem Schirm – tun letzten Endes aber zu wenig«, resümiert der Ökonom. Dieses Zögern ist gefährlich, weil es die Kleinen klein bleiben lässt: Laut der Studie wachsen gerade jene Unternehmen stark, die zuvor in neue Technologien investiert haben.
DIGITALER ARBEITSMARKT
9696 Digitalunternehmen gibt es in Berlin.
Jeder 7. neue Job in Berlin entsteht in der Digitalwirtschaft.
Insgesamt sind hier 88 206 Menschen im Digitalbereich angestellt – mehr als in jeder anderen deutschen Großstadt.
16 520 Beschäftigte arbeiten im Internethandel. Damit ist Berlin auch in diesem Bereich führend.
DIGITALE WIRTSCHAFTSKRAFT
10,4 Milliarden Euro erwirtschaften Berliner Digitalunternehmen im Jahr. Damit machen sie mehr Umsatz als die Unternehmen des Baugewerbes (9,9 Milliarden Euro).
Knapp 15 Prozent des Berliner Wirtschaftswachstums der vergangenen sechs Jahre stammen aus der Digitalwirtschaft.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine im November 2017 veröffentlichte Umfrage der Industrie- und Handelskammer Berlin. Fast drei Viertel der befragten Unternehmer würden demnach die Digitalisierungsmaßnahmen als zentral für den Geschäftserfolg ansehen. Nur 60 Prozent gaben hingegen an, auch über die notwendigen finanziellen Mittel zu verfügen. Etwas Anschub könnte die Berliner Politik liefern. Im September 2018 haben Senat und Abgeordnetenhaus die Gründung einer landeseigenen Digitalagentur beschlossen. Sie soll die Old Economy mit der New Economy vernetzen, als zentrale Anlaufstelle für kleine und mittelständische Unternehmen fungieren und niedrigschwellig zu allen digitalisierungsrelevanten Fragen informieren. Laut IHK würden 80 Prozent der Firmen auf ein solches Angebot zurückgreifen.
Kultur: Digitale Konzerthallen und virtuelle Kunstarchive
Schon einen Schritt weiter als die Wirtschaftspolitik scheint die Kulturpolitik in digitalen Fragen zu sein. Sie will die Digitalisierung dazu nutzen, Teilhabe zu stärken, Barrieren abzubauen und mehr Menschen für Kultur zu begeistern. »Wenn wir Kulturerbe digitalisieren, sind die Möglichkeiten endlos«, sagt Klaus Lederer, Bürgermeister und Kultur- und Europasenator von Berlin. »Ich glaube, wir werden da gerade im Vermittlungsbereich noch die ein oder andere Überraschung erleben.«
Zu den Berliner Kulturangeboten, die man heute bereits digital erleben kann, zählt etwa die Digital Concert Hall. Über dieses Abo-Angebot der Berliner Philharmoniker kann man Konzerte live oder als Abruf aus dem Archiv und in bester Tonqualität ins Wohnzimmer übertragen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Digitalisierung es ermöglicht, räumliche Distanzen zu überwinden. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen wiederum lässt sich neuerdings eine 170 Quadratmeter große Ausstellungsfläche, die ein Luftbild Berlins darstellt, mittels Tablet begehen. So können die Besucher in viele einzelne Stationen tiefer eintauchen – eine neue, anschaulichere Form der Annäherung an die Topografie der Stasi-Überwachung, die insbesondere auch das Interesse der jüngeren Generation wecken soll.
Klaus Lederer ist zuversichtlich, dass in nächster Zeit viele weitere Projekte folgen, die Kultur besser zugänglich machen oder sie anders vermitteln. Ein 2018 erstmalig aufgelegter Innovationsfonds mit einem Volumen von 750 000 Euro will zur digitalen Entwicklung im Kulturbereich beitragen und gezielt innovative Projekte unterstützen – der aktuelle Sachstand kann unter kulturb-digital.de verfolgt werden. Eine besondere Herausforderung sieht Kultursenator Lederer, wenn es um den digitalen Vertrieb von Eintrittskarten geht. »Wir wollen, dass der Erlös zu 100 Prozent an diejenigen geht, die auch den Content liefern – und nicht an kommerzielle Akteure.« Derzeit prüft die Stadt, ob sie zu diesem Zweck eine eigene Ticketplattform einrichten könnte.
MOBILITÄT
Platz 3 im Vergleich der deutschen Großstädte belegt Berlin, wenn es um die Digitalisierung der Verkehrsinfrastruktur und des Mobilitätssektors geht.
KULTUR
Pro Saison besuchen 50 000 zahlende Besucher die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker.
GRÜNDUNGEN
Jedes zehnte deutsche Digitalunternehmen gründet in Berlin. Allein im Jahr 2017 sind hier 524 digitale Start-ups entstanden – mehr als in München (153), Hamburg (224) und Frankfurt (137) zusammen. Anders ausgedrückt: Im Schnitt alle 17 Stunden gründet in Berlin ein neues Digitalunternehmen.
SOZIALES
165 000 Berliner nutzen das Online-Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de
Einen Anteil an der positiven Entwicklung trägt auch digiS, das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin. Seit seiner Gründung im Jahr 2012 hat das Zentrum mehr als 30 Einrichtungen in Digitalisierungsfragen unterstützt, unter anderem etwa die Stiftung Deutsche Kinemathek beim Nachlass von Marlene Dietrich. »Wir bieten handfeste technische Dienstleistungen, lotsen, koordinieren und vermitteln. Das Herzstück unserer Arbeit ist jedoch die Langzeitarchivierung für digitale Objekte«, erklärt Beate Rusch, stellvertretende Leiterin von digiS. Diese Arbeit ist mühsam, schließlich müssen die Daten nicht nur gelagert, sondern auch langfristig lesbar gemacht werden. Das gelingt laut Rusch vor allem deshalb, weil digiS an das Zuse-Institut Berlin und dessen Rechenzentrum angegliedert ist: Seit Anfang 2018 bekommt der bundesweit einmalige Service von digiS eine institutionalisierte Förderung. »Uns gibt es nun auf Dauer«, freut sich Rusch.
Soziales: Anonyme E-Mail-Beratung und viel Nachholbedarf
Während es in der Berliner Kulturszene relativ viele erfolgreiche Beispiele für den Einsatz digitaler Technologie gibt, steckt der soziale Bereich in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen. »Das Sozialwesen ist die am wenigsten digitalisierte Branche«, sagt Thomas Rzepus, Experte für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. »Und sie wird auch in der fachlichen Auseinandersetzung kaum berücksichtigt.« Dabei arbeite gerade diese Branche schon seit jeher nach Prinzipien, die in heutigen digitalen Ökosystemen hochgehalten werden: Wenn sie beispielsweise Patienten oder Hilfsbedürftige in den Mittelpunkt stellt, ist das nichts anderes als »Problemlösung durch Kundenzentrierung«, und mit »New Work« – flexible und gewandelte Arbeitsmodelle – beschäftigen sich Berufsgruppen wie Streetworker, ohne darüber nachzudenken.
Wenn es aber um die Nutzung digitaler Hilfsmittel geht, tut sich die Branche schwer. Laut Rzepus stechen bei der Implementierung von digitalen Ansätzen derzeit vor allem zwei große Träger hervor: »Die Caritas ist am weitesten strategisch digitalisiert, das DRK führt hingegen bei der digitalen Prozessorientierung.« Dass auch – oder vielleicht gerade – deutlich kleinere Träger die Digitalisierung geschickt einsetzen, zeigt das Beispiel der Berliner Initiative Karuna, die unter anderem eine App für obdachlose Jugendliche entwickelt hat.
Für die Caritas wiederum leitet Anna Gleiniger ein digitales Hilfsprojekt. Seit sechs Jahren steht der Beratungsservice U25 suizidgefährdeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen online zur Verfügung. Die Beratung selbst läuft anonym über persönlichen E-Mail-Austausch zwischen Hilfesuchenden und Ehrenamtlichen. Von Berlin aus hat Gleiniger im Jahr 2018 mit ihrem Team 196 Hilfesuchende betreut und 1229 eingegangene Mails beantwortet. »Sicherlich könnten wir auch prüfen, welche Möglichkeiten es in Richtung Chat und Videoberatung gibt«, sagt Gleininger. »Aber unsere Zielgruppe würde dann vermutlich nicht mitgehen.« Sie glaubt, dass durch das Aufschreiben eines Problems in der E-Mail oft ein intensives Nachdenken angestoßen werde. »Gerade bei dieser Thematik sind die Anonymität und die Zeit, die sich die Ehrenamtlichen für die Mailberatung nehmen, sehr kostbar.« Digitalisierung heißt eben immer auch: eine bewusste Wahl der eingesetzten Mittel.
Animation und Illustration: Mengxin Li