Fortschritt aus der Mitte

Als Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist der Mittelstand elementar für den Klimaschutz. Einige Betriebe machen vor, wie sich der CO2‑Fußabdruck mithilfe der Digitalisierung drastisch reduzieren lässt – während zugleich neue Geschäftschancen entstehen

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Wann immer eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Kosmetikherstellers Dr. Babor GmbH & Co. KG in Aachen etwas ausdruckt oder kopiert, fließen Daten an die IT und signalisieren: Hier vergrößert das Unter­nehmen gerade seinen CO2-Fußabdruck. Gleiches geschieht, wenn die Schranke zum Angestelltenparkplatz aufgeht oder die Mischerei Hautcremes anrührt. Die Daten laufen in einem Dashboard zusammen und bilden auf dem Monitor Säulen. Jede Farbe steht für die Emissionen einer Kategorie, darunter Strom, Fuhrpark, Büropapier und Kältemittel. Die Balken wachsen im Tagesverlauf, und eine darüber verlaufende Linie zeigt den Verlauf des Gesamtwertes. »Damit bilden wir unseren CO2-Verbrauch nahezu in Echtzeit ab und erfahren zugleich, wo es Optimierungspotenzial gibt«, erklärt Horst Robertz, Geschäftsführer für die Bereiche Beschaffung, Produktion und Forschung bei Babor.

Horst Robertz

»Unser Ziel für die Zukunft ist der Ersatz der Kompensation durch Maßnahmen zur echten Reduktion, sprich real weniger Emissionen«, sagt Horst Robertz von Babor.

Mit 700 Angestellten produziert das Familienunternehmen hochwertige Hautpflegeprodukte, erwirtschaftet einen Jahresumsatz von rund 200 Millionen Euro – und rückt den Klimaschutz immer weiter in den Fokus. Der Vertrieb erfolgt über den stationären Handel und über einen eigenen Onlineshop. Die über die Webseite georderten Päckchen werden klimaneutral transportiert und kommen ohne Füllstoffe aus Plastik aus. Seit rund fünf Jahren leitet Robertz ein interdisziplinäres Nachhaltigkeitsteam, auf dessen Idee das Dashboard zurückgeht. 2021 gewann Babor dafür den Nachhaltigkeitspreis des Verbands der Chemischen Industrie. »Unser Unternehmen ist heute schon klimaneutral«, sagt Robertz. »Unser Ziel für die Zukunft ist der Ersatz der Kompensation durch Maßnahmen zur echten Reduktion, sprich real weniger Emissionen.«

Zu diesem Zweck entsteht in Eschweiler, nur wenige Kilometer vom Firmensitz entfernt, eine neue, komplett recycelbare Produktionsstätte: Alle Bauteile des extrem energieeffizienten Baus sind gekennzeichnet. Sollte das Gebäude eines Tages demontiert werden, ließen sie sich nach Rohstoffen trennen und der Wiederverwertung zuführen. Bis dahin wird die Anlage 60 Prozent weniger Energie verbrauchen als gesetzlich gefordert. Photovoltaikanlage und Wärmerückgewinnung sollen die Produktion unabhängig von fossilen Brennstoffen machen. »Das wird eine der nachhaltigsten Kosmetikfabriken weltweit«, hofft Robertz. Wenn dort 2023 die ersten Beschäftigten ihre Arbeit aufnehmen, peilt der Ingenieur schon das nächste Ziel an: Bis 2025 will er die Emissionen des Unternehmens im Vergleich zu 2018 um 50 Prozent senken, später auf null herunterfahren. »Zunächst mussten wir mit digitalen Werkzeugen wie unserem Dashboard genau messen, wie effizient unsere Systeme arbeiten.«

Ein Blick in die Produktion bei Kosmetikhersteller Babor

Ein Blick in die Produktion bei Kosmetikhersteller Babor. Derzeit entsteht eine neue, komplett recycelbare Produktionsstätte.

Schranke vor dem Parkplatz von Babor

Viele Mittelständler sorgen schon heute für mehr Nachhaltigkeit – ganz ohne Druck aus der Politik.

»Unser Unternehmen ist heute schon klimaneutral«

Horst Robertz, Dr. Babor

Babor steht mit seinen Klimaschutzmaßnahmen nicht allein. Denn während die Politik und viele Konzerne noch um die beste Lösung ringen, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht und unabhängig von fossilen Brennstoffen wird, vollzieht sich im Hintergrund eine grüne Revolution: Mittelständische Unternehmen und Familienbetriebe verfolgen ehrgeizige Nachhaltigkeitsstrategien. Oftmals unbemerkt von der Öffentlichkeit, dafür mit einer für den Mittelstand typischen Anpacker-Mentalität. Horst Robertz sieht sogar Vorteile bei mittelgroßen Betrieben, wenn es um die nachhaltige Transformation geht: »Kurze Wege und schnelle Entscheidungen helfen uns, Dinge umzusetzen, für die Konzerne oft viel mehr Zeit brauchen.«


Produktionsprozess auf Stromerzeugung abgestimmt

Ob und wie zügig die innerbetriebliche Energiewende voranschreitet, scheint vor allem eine Frage des Willens zu sein: »Nach Zuschüssen zu rufen wird uns nicht vorwärtsbringen«, findet Alois Müller. Wären alle so entschlossen wie der Chef der Alois Müller GmbH, die sich im bayerischen Ungerhausen auf Heizungsanlagen, Lüftung, Sanitär, Klimaanlagen und Elektroinstallationen für Industrie und Privatkunden spezialisiert hat – Deutschland wäre schon viel weiter.

Alois Müller

»Wir erleben gerade eine Nachfrageexplosion«, sagt Alois Müller. »Große Unternehmen wollen wissen, wie sie schnell CO2-neutral werden können.«

Solarpanel auf Hebebühne

In Ungerhausen richtet sich die Produktion auch nach dem verfügbaren Solarstrom, der unter anderem direkt vom Dach kommt.

Alois Müller GmbH in Ungerhausen

Die Alois Müller GmbH in Ungerhausen baut unter anderem Heizungs- oder Klimaanlagen für Industrie und Privatkunden. 2019 wurde eine Green Factory eingeweiht, in der Lüftungskanäle gefertigt werden und eine Schweißerei untergebracht ist.

Als die Bundesregierung 2011 den Atomausstieg beschloss, stand für Müller fest: Regenerativen Energien gehört die Zukunft. Heute steht sein Unternehmen da, wo Babor und viele andere hinwollen: Im Sommer 2019 hat der Unternehmer und Chef von 700 Beschäftigten eine Green Factory eingeweiht, in der unter anderem Lüftungskanäle gefertigt werden und eine Schweißerei untergebracht ist. Seitdem läuft der Betrieb nahezu CO2‑neutral und energieautark. Die benötigte regenerative Energie wird komplett vor Ort produziert.

Möglich machen das eine Photovoltaikanlage auf dem Flachdach, ein mit Ökogas betriebenes Blockheizkraftwerk und eine Pelletheizung, die sich aus nachwachsenden Rohstoffen wie zum Beispiel Holzabfällen speist. Um die Energie bestmöglich zu nutzen, ist bei Alois Müller der Produktionsprozess auf die Stromerzeugung abgestimmt. »Gerade energieintensive Prozesse legen wir stets in die Zeit zwischen 9 und 16 Uhr, wenn wir genug Solarstrom haben«, erklärt Müller. Wie auch für Horst Robertz von Babor spielt für Müller die Digitalisierung eine entscheidende Rolle dafür, dass mehr Nachhaltigkeit gelingt. »Ausschlaggebend ist die Datenlage. Ich brauche exakte Informationen über meine Fabrik, den Energieverbrauch, die Produktion und das Wetter.«

Photovoltaik-Module auf dem Dach

Unternehmen, die in Nachhaltigkeit investieren, tun das durchaus auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denn Klimaschutz wird zunehmend zum Wettbewerbsfaktor. »Wir erreichen heute neue Handelspartner, für die Nachhaltigkeit die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist«, sagt Horst Robertz von Babor. Bei Produkten für die Körper- und Gesichtspflege legen Verbraucher:innen Wert auf Natürlichkeit und klimaschonende Produktionsprozesse. Dafür sind sie loyaler und bezahlen faire Preise. Deshalb wird der Kosmetikhersteller in einem nächsten Schritt seine Rezepturen und Inhaltsstoffe, aber auch die Verpackungen noch nachhaltiger gestalten.

»Wir wollen so schnell wie möglich unseren Fuhrpark elektrifizieren«

Alois Müller, Alois Müller GmbH

Elektroauto an Ladesäule

Alois Müllers Betrieb läuft nahezu CO2-neutral und energieautark. Überschüssigen Strom verkauft er über eine E-Tankstelle.

Nachhaltigkeit als Geschäftschance

Zusätzlich können neue Geschäftsfelder weitere Umsätze bringen: Alois Müller verkauft seinen überschüssigen Strom bereits. Zur Fabrik gehört eine E-Tankstelle mit bislang zwei öffentlichen Schnellladestationen für Elektroautos. Einen wahren Boom beschert ihm derzeit die e-con AG, ein auf Energieberatung spezialisiertes Tochterunternehmen. »Wir erleben gerade eine Nachfrageexplosion«, sagt Müller. »Große Unternehmen und Kommunen wollen wissen, wie sie schnell CO2-neutral werden können.«

Für sein Nachhaltigkeitskonzept ist der Betrieb unter anderem mit dem Bayerischen Energiepreis ausgezeichnet worden. Dennoch ist Alois Müller noch lange nicht am Ziel. »Wir wollen so schnell wie möglich unseren Fuhrpark elektrifizieren«, erzählt er. »Außerdem beschäftigen wir uns mit Wasserstoff und mit möglichen Baustoffen der Zukunft.« Benötigt er dafür Unterstützung aus der Politik? »Der Mittelstand braucht klare und verlässliche energiepolitische Entscheidungen für seine Investitionen«, fordert Müller. Geschäftsführer Robertz von Babor hat noch einen weiteren Wunsch: »Mehr Tempo, bitte, beim Ausbau von Infrastruktur und bei Genehmigungsverfahren!« Alles andere schafft der Mittelstand aus eigener Kraft.

Fotos: Max Brunnert (3), Barbor PR (1), Constantin Mirbach (5)

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