Die agoraphobische Reisende
Die in Google Street View verfügbaren Strassen haben Jacqui Kenny zu den Orten geführt, von denen sie dachte, sie könnte sie niemals besuchen. Sie ist eine von Tausenden Menschen auf der ganzen Welt, die unter Agoraphobie (Platzangst) leiden. Allein der Gedanke daran, das Haus zu verlassen, löst bei ihr Stress und Panikattacken aus, sodass alltägliche Aktivitäten wie Einkaufen oder zur Arbeit gehen sehr schwer oder gar unmöglich zu bewältigen sind. Ihr Zuhause wurde zu ihrem sicheren Hafen, in dem sie sich von der Aussenwelt abschottete.
Eines Tages, als sie sich durch Google Street View klickte, kam ihr die Idee. Zufällig sah sie eine eindrucksvolle Szene, in der ein Hund hinter dem Street View-Kameraauto hinterherlief. Jacqui passte den Bildausschnitt an, nahm einen Screenshot auf und dachte sich:
"Das ist ein wunderschönes Bild."
Sie bereiste virtuell ferne Orte auf der Welt, die sie schon immer fasziniert haben, wie beispielsweise Peru und die Mongolei. Dabei hielt sie sich konsequent an Seitenstrassen sowie abgelegene Orte und fing die Momente ein, die ihr besonders gefielen. Je mehr Orte sie mit Street View entdeckte, desto eher fand sie Motive, die sie faszinierten.
Was sie an diesen auf den ersten Blick unscheinbaren Orten fand, faszinierte die Menschen. Ihre Familie ermutigte sie, ihre Fotos zu teilen, und in nur wenigen Monaten hatte sie auf ihrem Instagram-Profil mehr als 50.000 Follower. Ihre Fotos vermitteln ein Gefühl für die Abgeschiedenheit der Orte und ihre eigene Sehnsucht danach. Sie sind tief bewegend und viel mehr als nur Fotos mit einer ausgewogenen Bildkomposition. Durch diese Art des Reisens und die Möglichkeit, an Orte zu gelangen, von denen sie bisher nur träumen konnte, fand Jacqui ihre eigene Stimme. Sie kann sich nun durch die Fotografie ausdrücken – und das bedeutet sehr viel für jemanden, dem es schwerfällt, seine Komfortzone zu verlassen. Sie beschreibt das so:
"Meine Agoraphobie und Angstzustände hindern mich daran, zu reisen. Also habe ich mir eine andere Möglichkeit gesucht, die Welt zu erkunden."
Auch wenn diese neue Erfahrung anfangs manchmal verwirrend war, half sie Jacqui dabei, sich aus ihrem Schneckenhaus zu trauen: Im Herbst 2017 präsentierte sie in Manhattan ihre erste Einzelausstellung. In Zusammenarbeit mit Stories For Good verkauft sie jetzt Drucke in limitierter Auflage, um Geld für Wohltätigkeitsorganisationen zu sammeln, die sich auf das Thema psychische Gesundheit konzentrieren.
Jacqui weiss, dass noch ein langer Weg vor ihr liegt und ist gespannt, wie sie sich unterwegs als Fotografin weiterentwickeln wird. Wohin genau die Reise geht, weiss sie noch nicht – nur, dass die Richtung stimmt.