Selbstbestimmt und teamorientiert
Ein Weltmarktführer bleibt daheim: Wie die Sensortechnikexperten von IFM ihre Arbeit aus dem Homeoffice organisieren
Um Steffen Fischer ist es ruhig geworden. Während 80 Prozent der Mitarbeiter der IFM Electronic GmbH ihre Arbeit im Homeoffice erledigen, hält der Geschäftsführer Personal in seinem Einzelbüro im Betrieb in Tettnang am Bodensee die Stellung. »Wir Führungskräfte wollen unseren Produktions- und Logistikmitarbeitern zeigen: Wir befolgen alle die neuen Hygieneregeln. Ihr seid hier sicher«, sagt Fischer. Für alle anderen gilt: Zu Hause bleiben. Denn wie bei vielen Unternehmen wurde auch bei der IFM, dem Weltmarktführer für Sensortechnik für die Industrie 4.0 mit über 7 300 Beschäftigten in 95 Ländern, im Zuge der Corona-Krise praktisch über Nacht die Arbeit an die heimischen Schreibtische verlagert. Für Kollegen, die ihren Dienst zuvor ausschließlich vor Ort verrichteten, schaffte das Familienunternehmen 200 neue Laptops an. Mitarbeiter an Wohnorten mit unzureichender IT-Infrastruktur wurden mit mobilen Access Points versorgt. »Die VPN-Zugänge halten«, sagt Steffen Fischer. »Obwohl sich plötzlich dreimal mehr Kollegen aufschalten.«
»Unsere Softwareentwickler kommen im Homeoffice gut zurecht«, sagt Steffen Fischer (Bild links). Anders verhalte es sich bei den Ingenieuren: »Unsere Hardwareentwickler müssen einen Sensor anfassen, aufschrauben und dann hineinschauen. Diese Arbeit gehört an einen Arbeitsplatz und nicht an einen Küchentisch.«
Was der Personalchef derzeit erlebt, sind Führungskräfte und Mitarbeiter, die sich teilweise erstmals mit dem Thema Homeoffice beschäftigen. »Die Krise wirkt als Katalysator für New Work und stärkt die Eigenverantwortung, etwa bei der Vertrauensarbeitszeit«, so Fischer. »Außerdem fördert sie die Veränderungsbereitschaft.« Studien bestätigen diese Einschätzung: Eine vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) mithilfe von »Google Surveys« initiierte deutschlandweite Befragung unter berufstätigen Internetnutzern ergab, dass die Arbeit im Homeoffice zuletzt zugenommen hat.
Vor Beginn der Krise gingen nur 35 Prozent der knapp 1 600 Umfrageteilnehmer ihrem Job zumindest ab und zu in den eigenen vier Wänden nach. Schon Ende März traf das auf 43 Prozent zu. Dass vorher nicht mehr Berufstätige daheim arbeiteten, lag nicht zuletzt an den Vorgesetzten: Gut 70 Prozent der Befragten gaben an, der eigene Arbeitgeber sei technisch für mobile Arbeit gerüstet, in knapp 40 Prozent der Fälle aber sperre sich der Chef.
Nun hatten viele Vorgesetzte im März nicht mehr die Wahl, ob sie Homeoffice nun erlauben sollten oder nicht. Sie waren zum Handeln gezwungen. Den IFM-Personalchef Steffen Fischer erreichen vor allem positive Stimmen. »Gerade wer einen langen Weg zur Arbeit hat, freut sich, dass er jetzt eine Stunde länger schlafen, mit den Kindern frühstücken kann – und trotzdem pünktlich am Schreibtisch sitzt.«
Während des Lockdowns ist es am Standort von IFM in Tettnang ruhig geworden: Fast 80 Prozent der Mitarbeiter arbeiteten von zu Hause.
Jedoch stellt sich in diesem deutschlandweiten Ad-hoc-Feldversuch auch heraus, wem der heimische Arbeitsplatz wirklich nutzt und welche Berufsgruppen diese Form der Arbeit womöglich bremst. »Unsere Softwareentwickler kommen im Homeoffice gut zurecht«, sagt Steffen Fischer. »Sie werden deutlich seltener unterbrochen und sind effizienter als im Büro.« Je nach Familiensituation spiele stattdessen aber die Betreuung der Kinder eine größere Rolle. Anders verhalte es sich bei den Ingenieuren, die normalerweise nicht ausschließlich am Computer arbeiteten, nun aber auch tageweise daheim tätig sind: »Unsere Hardwareentwickler müssen einen Sensor anfassen, aufschrauben und dann hineinschauen. Diese Arbeit gehört an einen Arbeitsplatz und nicht an den Küchentisch.« Es zählt laut Fischer zu den großen Herausforderungen, dass Aufgaben, die vor der Umstellung arbeitsteilig im Team erledigt wurden, nun plötzlich räumlich getrennt zu bewältigen sind.
Unabhängig von der individuellen Produktivität müssen sich alle Mitarbeiter an die neuen Bedingungen gewöhnen. Die IFM und Steffen Fischer haben deshalb nicht nur einen Leitfaden für die Hygiene, sondern auch für das Arbeiten zu Hause erstellt. Die wichtigsten Tipps: »Strukturiere den Tag. Mache dir bewusst, dass du arbeitest. Lerne, mit Störungen umzugehen, die es im Büro nicht gibt.« Und natürlich entstehen neue Routinen im Umgang mit der veränderten Situation. Fischer erzählt von einem Kollegen, der sich im heimischen Arbeitszimmer eine Krawatte umbindet. »Wenn seine Kinder in den Raum kommen, sehen sie sofort: Papa ist beschäftigt.«
Die Krise wirkt als Katalysator für New Work und stärkt die Eigenverantwortung, etwa bei der Vertrauensarbeitszeit
Steffen Fischer Geschäftsführer Personal Ifm Electronic
Viele Berufstätige in Deutschland machten sich in den vergangenen Monaten nicht nur mit einem veränderten Arbeitsumfeld, sondern auch mit modernen digitalen Werkzeugen vertraut. Sie folgten damit einem globalen Trend: Unter den zehn im April 2020 weltweit am häufigsten heruntergeladenen Apps (außer Spiele) im Google Play Store und im iOS-App-Store rangierten laut dem Analysedienst SensorTower drei Business-Anwendungen für Online-Videokonferenzen, darunter auch Google Meet. Die IFM arbeitet neuerdings vermehrt mit Kollaborations-Anwendungen. »Es gibt an der Stelle viel digitale Neugier«, berichtet Steffen Fischer. »Und auch Stolz ist spürbar, etwa wenn sich jemand zum ersten Mal ohne Anleitung in eine Online-Konferenz eingewählt hat und dort auf 30 Kollegen trifft.« Im Umgang mit den Tools setzt das Unternehmen auf die Eigeninitiative der Kollegen, auf zusätzliche Schulungen und die vorhandene Innovationskultur, aus der bislang bis zu 100 Patente im Jahr hervorgehen. »Wir fragen einander um Hilfe und antworten möglichst unkompliziert«, so Fischer.
Und wie blickt der Personaler auf die Zeit nach dem Ausnahmezustand? »Viele Kollegen und Führungskräfte denken heute anders über Präsenzarbeit, andere bleiben bei ihrer eher konservativen Sicht«, sagt Steffen Fischer. »Aber ich finde es nicht schlimm, darüber in einen sachbezogenen Diskurs zu gehen.« Laut bidt-Befragung hoffen zwei Drittel der Befragten nach Ende der Krise auf eine großzügigere Homeoffice-Regelung als zuvor. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte sogar einen Gesetzentwurf an, der ein »Recht auf Homeoffice« ermöglichen soll.
Strukturiere den Tag. Mache dir bewusst, dass du arbeitest. Lerne, mit Störungen umzugehen, die es im Büro nicht gibt
Aus einem Leitfaden der Ifm für die Mitarbeiter
Immerhin: Die Funktionstüchtigkeit der Arbeit von zu Hause wurde in der Krise vielen vor Augen geführt. Als neue Dogmen aber möchte Steffen Fischer New Work, Homeoffice und agiles Arbeiten nicht verstanden wissen. »Letztlich setzt sich durch, was erfolgreich macht. Maßnahmen dürfen auch wieder zurückgenommen werden, wenn sie nicht passen.« Und doch erwartet Steffen Fischer, dass es in der künftigen Arbeitswelt selbstbestimmter und teamorientierter zugehen wird, dass Zeit- und Arbeitsort-Souveränität eine größere Rolle spielen werden. Ob auch 2021, nach einem möglichen Ende der Corona-Zeit, noch 80 Prozent seiner Kollegen im Homeoffice sitzen werden? Steffen Fischer glaubt es nicht. »Wir arbeiten bei IFM gern zusammen, vor Ort. Dieses Zusammenarbeiten kann, bei allen Vorteilen des Homeoffice, sehr effizient sein.«
DIGITALE WERKZEUGE
Neben Videochat-Angeboten wie Zoom, Skype oder Microsoft Teams gewinnt Google Meet an Popularität. Allein im April 2020 griffen jeden Tag drei Millionen neue Nutzer auf das Programm zu.
Die Google Zukunftswerkstatt widmet sich in kostenlosen Live-Webinaren den Themen »Produktives Arbeiten im Homeoffice« und »Führung eines Teams aus dem Homeoffice«.
Eine große Übersicht zum Thema »Arbeiten von Zuhause« haben die Trainerinnen und Trainer der Google Zukunftswerkstatt auf einer eigenen Webseite versammelt.
Fotos: Constantin Mirbach