Stadt aus Daten
Was wäre, wenn Kommunen mehr Zahlen öffentlich machen würden? Wem würde das helfen? Eine Geschichte über Goldgräberstimmung und die Grenzen digitaler Entwicklung
Kurzes Quiz. Wer folgende Fragen für seinen Wohnort oder die nächstgelegene Stadt am schnellsten beantworten kann, gewinnt: Auf welchem Wochenmarkt kann man donnerstags auch Fisch kaufen? Wo ist unterwegs der nächste Wickeltisch? Gibt die Stadt mehr Geld für Kultur und Wissenschaft oder für Sicherheit und Ordnung aus?
Zwar kann fast jeder die Fragen mit etwas Recherche beantworten, Bürgerinnen und Bürger aus Bonn wären aber besonders flink. Auf den Internetseiten bonn.market, kinderbonn.de und offenerhaushalt.de finden sie die Antworten mit einem Klick. Die Wochenmarkt- und die Kinderseite hat Damian Paderta gebaut. Der 34-jährige Freiberufler nennt sich Digitalberater und Web-Geograf, »aber eigentlich gibt es für meinen Beruf keine Bezeichnung«, sagt er. Meist kauft er im Supermarkt ein, und Kinder hat er auch keine. Mit den Internetseiten will Paderta zeigen, wie der Zugang zu öffentlichen Daten Menschen das Leben erleichtert.
Das Prinzip dahinter nennt sich »Open Data«. Öffentliche Stellen und Einrichtungen machen ihre Daten zugänglich, damit Privatleute wie Damian Paderta, aber auch Unternehmen sie in Information umwandeln können, die im Alltag allen nützt. Dabei geht es in Deutschland ausschließlich um solche Daten, die nicht personenbezogen sind: Statistiken, Geodaten, Echtzeit-Verkehrsdaten wie die Parkplatzsituation, Informationen über öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten und Krankenhäuser oder Umweltdaten wie Luft- und Wasserqualität.
Verkehr: Was wäre, wenn man das Wissen der Verkehrsleitzentrale auf das Handy jedes Bürgers spielen könnte? Würde der Verkehr besser fließen?
Die Amerikaner gaben ihre Daten 2009 als Erste standardmäßig frei (»open by default«). Ein Jahr darauf folgten die Briten. Beide Länder gelten bei Open-Data-Aktivisten als Vorbilder. Die Hinwendung eines Landes zu Open Data ist ein Prozess, Rankings bewerten den Grad der Öffnung nach verschiedenen Kriterien. Die vorderen Plätze belegen vor allem reiche, gut verwaltete Länder. Aber auch Nationen wie Indien oder Kolumbien stellen heute schon mehr Daten in besserer Qualität bereit als Deutschland. Am besten läuft es laut Index der Open Knowledge Foundation in Taiwan. Deutschland landet in der Liste auf Platz 26 – und damit hinter Rumänien, Tschechien und Moldawien.
Damian Paderta nennt kinderbonn.de ein »niedliches Projekt«. Er meint das nicht abfällig, die Seite war schließlich seine Idee. Aber das Versprechen von Open Data ist ein größeres, als schnell und bequem zum nächsten Wickeltisch zu finden. Es geht um bessere Information, um mehr Transparenz und weniger Verschwendung und Korruption. In Mexiko fand ein Think Tank in Datensätzen 1400 »Lehrer«, alle 1912 geboren, noch dazu am selben Tag, und vermeintlich immer noch im Dienst. Dank Open Data konnte man die Geister aus den Gehaltslisten entfernen.
Parkplatz: Was wäre, wenn man mit einer App alle freien Parkplätze in einer Stadt finden könnte?
In cleveren Anwendungen steckt außerdem Geld für Unternehmen. Das nigerianische Start-up BudgIT verwandelt zum Beispiel unübersichtliche Finanztabellen in verständliche Grafiken. In dem afrikanischen Land können Beamte seither besser nachverfolgen, ob staatlich geförderte Projekte tatsächlich umgesetzt werden. BudgIT verdient Geld mit seiner Anwendung, und der Staat setzt Steuern effizienter ein. An anderen Stellen können unnötige Ausgaben schneller identifiziert werden. Laut The Economist fanden britische Beamte mithilfe von Open-Data-Analysen heraus, dass mehrere Abteilungen ihres Hauses dieselben externen Analysen gekauft hatten. Die Doppelanschaffung kostete den Steuerzahler vier Millionen Pfund zusätzlich. Und noch ein Beispiel: San Francisco schätzt, dass die Stadt durch Freigabe von Verkehrsdaten seit 2012 mehr als eine Million Dollar eingespart hat – allein, weil nicht mehr so viele Menschen mit der Bitte um Auskunft anrufen.
Datenanalysen können helfen, Geld zu sparen. Manchmal sogar Millionensummen
Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung formulierte kürzlich das Potenzial von Open Data. Da ist von 20 000 neuen Arbeitsplätzen allein in Deutschland die Rede. Das jährliche wirtschaftliche Potenzial wird mit zwölf bis 130 Milliarden Euro angegeben. Eine enorme Spanne, und die Autoren schreiben selbst, der Blick auf solche Zahlen helfe nur bedingt, den möglichen Nutzen und die Wirkung von Open Data zu fassen. Ein Umstand ist allerdings einigermaßen leicht zu erkennen: Deutschland hinkt bei der Öffnung seiner Daten hinterher. Zwar wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht, doch viele Interessenvertreter sind noch mehr als unzufrieden. »Zu schwach, zu schwammig, zu spät«, beurteilt die Open Knowledge Foundation Deutschland den Entwurf, der im März 2017 vom Bundesrat beraten wird. Das Gesetz regelt nur die Datenfreigabe auf Bundesebene. Länder und Kommunen sind, wenn man so will, weiterhin sich selbst überlassen.
Sucht man derzeit nach Städten, in denen sich in Sachen Datenöffnung etwas tut, stößt man auf Bonn, Köln, Hamburg, Berlin oder Moers. Web-Geograf Damian Paderta ist froh, dass er in Bonn zu Hause ist: »Wir haben hier ja sogar einen Top-Mann.« Er meint Sven Hense, Leiter für IT-Anwendungen bei der Stadt Bonn. Hense weiß, dass er eine Art Pionier ist. Er spricht trotzdem bescheiden. Bonn hat als erste Stadt in Deutschland gemeinsam mit Bürgern, Institutionen und Verwaltungsmitarbeitern eine Leitlinie zu Open Data entwickelt, fraktionsübergreifend beschlossen und in die städtischen Referate getragen. Hense hält dieses Vorgehen für zentral, denn was nützt ein Open-Data-Beauftragter, wenn diejenigen, die Daten freigeben sollen, nicht wissen, wozu. Sven Hense spürt die Wirkung. »Inzwischen kommen sogar Kollegen zu mir, weil sie von sich aus Daten online stellen wollen.«
Obst: Was wäre, wenn es eine Übersicht gäbe, auf der alle frei zugänglichen Apfel- oder Nussbäume einer Stadt erfasst sind?
Trotzdem ist Henses Prognose für die nahe Zukunft von Open Data in Deutschland verhalten, entscheidend sei die Datenverfügbarkeit auf allen Ebenen: Bund, Länder, Kommunen. Ein Start-up, das mit Apps Geld verdienen will, programmiert am besten eine Anwendung, die an vielen Orten funktioniert. Andernfalls ist es meist nicht lukrativ genug.
Bislang sind es eher Enthusiasten und Aktivisten wie Damian Paderta, die punktuell kleine Projekte aufsetzen. Bei sogenannten Hackathons, kleinen Programmiertreffen, tauschen sie sich aus. »Das ist wichtig«, betont Sven Hense. Gerade wenn es darum gehe, Bürger und Schüler für das Thema zu gewinnen. Allerdings versanden viele kluge, kleine Projekte wieder. Solange die Entwickler studieren, sagt Hense, hätten sie Zeit und Energie, ihre Ideen voranzutreiben. »Wenn dann aber die kleine Tochter spielen will, und im Job 31 Mails im Postfach hängen, bleibt das Open-Data-Projekt auf der Strecke.« Hense würde zivilgesellschaftliche Datenprojekte deshalb gerne so intensiv fördern wie Kultur, Sport oder soziales Engagement.
Immobilien: Was wäre, wenn es eine Übersicht aller leer stehenden Wohnungen in einer Stadt gäbe?
Woher kommt die Verhaltenheit gegenüber Open Data? Experten nennen drei Probleme. Erstens: Große Teile der Daten stehen nicht in guter Qualität bereit oder sind schlicht irrelevant. Zweitens: Viele Akteure kennen sich nicht gut genug aus. Ganz egal, ob Politiker, Beamte, Bürger, Aktivisten oder Journalisten. Es geht nicht um die Programmierkenntnisse jedes Einzelnen. Jedoch sollten alle besser verstehen, wie sich Daten und Zahlen lesen lassen. Drittes Problem: Datensicherheit. Wie gibt man große Mengen an Daten frei, ohne dabei den Datenschutz zu verletzen? Die Antwort ist verzwickt. Experten sagen, dass sich fast alle Daten anonymisieren ließen. Man müsse sie nur geschickt genug zerhacken. Andere bezweifeln das. Je mehr Daten, desto einfacher sei es, Infos neu zu kombinieren und am Ende doch herauszufinden, welche Daten zu welcher Person gehören.
Eines der Probleme: Wie gibt man in großem Umfang Daten frei, ohne dabei die Persönlichkeitsrechte zu verletzen?
Für Michael Lobeck von der Universität Bonn steht die Bedeutung geschützter Daten außer Frage. »Ohne Datenschutz keine Demokratie«, so Lobeck. Der Knackpunkt der Diskussion ist aus seiner Sicht ein anderer. Michael Lobeck berät neben seiner Forschungsarbeit Bürger, Verwaltungsmitarbeiter und Unternehmen zu »Smart Cities«. Noch so ein nach Zukunft klingender Begriff, unter dem sich jeder das vorstellt, was er am liebsten hat. Die Menschen, sagt Lobeck, wünschten sich vor allem Lösungen. Ganz egal, ob für die Energiewende, die Mobilitätswende, den demografischen Wandel oder für mehr Bürgerbeteiligung. Auf dem Weg dorthin, so die Annahme, brauche es viele Daten, viel Rechenleistung, viel Vernetzung. Und das Etikett dafür, sagt Lobeck, sei dann eben oft »Smart City« oder »Open Data«. Aber es sei ein Irrglaube, dass Technik allein Lösungen produziere, sagt Michael Lobeck. Bei seinen Vorträgen zeigt er dann eine Schlagwortwolke mit Begriffen, die in Verbindung mit »Smart City« besonders häufig auftauchen: Technologie, Internet, Digital, Lösung, App, Zukunft. Worte, die hingegen nicht vorkommen: Menschen, Bürger, Beteiligung. Dabei, so Lobeck, müsse eine Gemeinschaft als Erstes herausfinden: Was ist unser Ziel? Wo wollen wir hin mit unserer Stadt? Was wünschen wir uns? Erst dann könne es um Datenbankformate und Lizenzen gehen. In der Realität landen die Teilnehmer von Workshops, Ausschüssen und Kommissionen oft bei einem »bunten Blumenstrauß von irgendwas«. So entscheiden sie am Ende, ob sie nun smarte Straßenlaternen oder smarte Mülleimer wollen. Die Entwicklung der Stadt als Ganzes verlieren sie dabei aus den Augen.
Rathaus: Was wäre, wenn man Bürger per Mail informieren könnte, sobald im Stadtrat ein Thema verhandelt wird, das sie betrifft oder interessiert?
Nicht nur Städte, ganze Industriezweige mühen sich um einen guten Umgang mit den Chancen, die sich durch neue Technologien ergeben. Wollen wir die Technik um der Technik willen nutzen? Wollen wir sie um der Gemeinschaft willen? Wenn ja: wie? Darüber muss man diskutieren. Vor allem aber muss man darüber nachdenken, sagt Michael Lobeck. Und der beste Prozessor dafür steckt, anders als jene für die Auswertung großer Datenmengen, nicht in einem Metallgehäuse, sondern im Kopf des Menschen.
Illustration: Jan Kruse/Human Empire