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Völlig neue Perspektiven

In der Kulturszene entsteht in diesen Monaten eine neue Sparte: das Digitale. Im Augsburger Staatstheater erhoffen sich die Macher dadurch ein neues, internationales Publikum

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen: André Bücker hat die Krise kommen sehen. Bücker ist Intendant des Augsburger Staatstheaters. Als wegen der Corona-Pandemie sämtliche Vorstellungen von Ballett über Theater bis zu Konzerten in allen Kulturstätten der Republik abgesagt wurden, hatte André Bücker eine Idee: Er wollte die Kultur zu den Menschen nach Hause bringen. Aber nicht in Form einer »Konserve«, wie Bücker ins Netz gestellte Streams vergangener Aufführungen nennt, sondern als ­»eigene künstlerische und ästhetische Leistung«. Praktisch, dass im Keller seines Theaters seit Kurzem 500 Virtual-Reality-Brillen lagern.

Was Bücker, die Schauspieler, Musiker und Tänzer des Staatstheaters zusammen mit der Augsburger Filmproduktionsfirma »Heimspiel« dann binnen zwei Wochen auf den Weg brachten, ist deutschlandweit einmalig: Sie inszenierten Theater- und Ballettaufführungen, die ihre Augsburger Zuschauer nun auf dem heimischen Sofa über eine Virtual-Reality-Brille anschauen können. Nach Hause gebracht und auch wieder abgeholt werden die Brillen von den Mitarbeitern des Theaters. Ein Lieferservice ist seit Beginn der Krise schließlich auch dort selbstverständlich, wo er früher völlig absurd schien.

Die Kulturbranche dürfte zu den großen Verlierern der Corona-Pandemie gehören. Tausende Künstler hangeln sich auch in guten Zeiten von ­einem Auftrag zum nächsten, leben von kleinen Honoraren und haben kaum Rücklagen. Kleine Theater können mit ihren Einnahmen oft gerade ihre Kosten decken. Die Krise hat viele sofort in Existenznot gestürzt, denn die staatliche Unterstützung reicht längst nicht in jedem Fall aus.

Und trotzdem bieten diese Zeiten auch Chancen. Wenn das gewohnte Umfeld aus Bühnen und Konzertsälen, Drehorten und Clubs plötzlich zur Sperrzone wird, ent­stehen neue Ideen. Ganz besonders im Netz, aber auch mit anderen digitalen Hilfsmitteln. So wie am Augsburger Staatstheater. Intendant André Bücker wollte im Frühjahr ohnehin ein Stück inszenieren, das Virtual Reality integriert: Mit Orfeo ed Euridice (Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck) stand eine Oper im Spielplan, deren Protagonisten zeitweise in die Unterwelt abtauchen. »Eine perfekte Gelegenheit für den Einsatz von Virtual Reality (VR), weil die klassische Bühne hier an ihre Grenzen stößt«, sagt Bücker. Als er das Stück wegen der Pandemie absagen musste, kam ihm die Idee zur VR-Inszenierung samt Lieferservice.

Die erste Aufnahme, die das Augsburger Publikum zu sich nach Hause bestellen konnte, war Judas, ein Ein-Personen-Stück über den Mann, der laut Bibel Jesus verriet. Bücker ließ es von Regisseur Magz Barrawasser in der Goldschmiedekapelle der St.-Anna-Kirche in Augsburg inszenieren. Das Besondere: Der Zuschauer hat dank VR-Brille das Gefühl, alleine mit Judas in der Kapelle zu sein. »Durch die Brille erleben Sie die Inszenierung in 3-D. Der Schauspieler spricht Sie ganz direkt an, er kommt auf Sie zu oder steht auch mal neben Ihnen«, erklärt Bücker. »Das ist eine neue Form von Theater, und Sie tauchen fast noch direkter in die Handlung ein, als würden Sie im Theatersaal vor der Bühne sitzen.«

Theaterbühne André Bücker

Diese Kostenlos-Kultur sollte sich gar nicht erst etablieren

André Bücker, Intendant des Augsburger Staatstheaters

Ganz ähnlich funktioniert auch die zweite Inszenierung: ein Ballett mit 14 Tänzern. Weil sie sich nicht gemeinsam in einem Raum aufhalten durften, filmte Bücker jeden von ihnen einzeln aus insgesamt drei Perspektiven beim Tanzen. »Im Schnitt haben wir dann alles zusammenmontiert«, erzählt Bücker. »Mal sehen Sie als Zuschauer nur einen Tänzer, an anderen Stellen haben wir einen Tänzer in zwei verschiedenen Perspektiven im Bild, und es sieht so aus, als würde derjenige mit sich selbst tanzen. Und manchmal haben wir die Inszenierung so geschnitten, dass mehrere Tänzer gleichzeitig zu sehen sind.« Auch hier scheint der Zuschauer mit dem Stück zu verschmelzen, weil es durch die VR-Technik so wirkt, als würden die Tänzer auf ihn zu oder um ihn herumtanzen. Das Digitale ist hier kein Ersatz zum analogen Kulturerlebnis, sondern eine eigene Form.

Rund zehn Euro kostet das Ausleihen der Theater-VR-Brille inklusive ­Lieferservice. Das ist weniger als eine Theaterkarte, aber André Bücker wollte die finanzielle Hürde nicht zu hoch setzen und sehen, wie die Idee angenommen wird. Das Ergebnis? »Uns haben sogar Menschen aus anderen Städten angeschrieben und gefragt, ob wir die Brillen auch zu ihnen liefern können«, erzählt Bücker.

Zu den wenigen Künstlern, die in diesen Wochen Umsätze generieren, gehört auch Miss Allie. Die Singer-Songwriterin aus Hamburg musste ihre Frühjahrstournee Mitte März abbrechen und viele Konzerte verschieben. Doch sie nutzte die gewonnene Zeit für ein neues Projekt: »Ich wollte mir schon immer ein Konzept für Live-Konzerte im Netz überlegen.« Einmal pro Woche singt sie nun im Internet, unterstützt von einem Team aus Technikern und Kameraleuten. Für deren Gage sammelt sie Geld per Crowdfunding. Während der Konzerte können ihre Fans außerdem über einen Link im Stream Geld spenden. »Eine Art digitales Eintrittsticket«, sagt Miss Allie.

Ähnlich gehen zahlreiche Festivals mit den neuen Gegebenheiten um. Eines von ihnen ist »United We Stream«. Es wurde in Berlin erdacht, um den Clubs der Hauptstadt durch die Krise zu helfen. Mittlerweile findet es in zahlreichen Gegenden Deutschlands Nachahmer, so auch im Rhein-Neckar-Gebiet. Auch dort können die »Gäste« über einen Link Geld spenden. »Wir wünschen uns, dass sie genauso viel zahlen wie für einen normalen Clubbesuch«, sagt Matthias Rauch. Er leitet die kulturelle Stadtentwicklung in Mannheim und gehört zu den Festival-Organisatoren im Rhein-Neckar-Raum. Rauch begrüßt es, dass so viele neue Ideen aus dem Netz kommen. Er sieht aber auch Gefahren, wenn Künstler kostenlos streamen: »Diese Kostenlos-Kultur sollte sich gar nicht erst etablieren.«

Singer-Songwriterin Miss Allie und Intendant André Bücker wollen die Erfahrungen aus der Krise auch später nutzen. Miss Allie kann sich vorstellen, neben den analogen Konzerten zukünftig ein eigenes, regelmäßiges Online-Format zu etablieren. André Bücker will die Menschen weiterhin mit VR-Inszenierungen für zu Hause überraschen: Eines der nächsten Stücke wird er sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch inszenieren lassen. Es soll im Netz gegen Bezahlung bereitstehen, als Download auf die eigene VR-Brille. »Im besten Fall machen wir auf diese Weise ein internationales Publikum auf unser Haus in Augsburg aufmerksam«, hofft Bücker.

DIGITALE WERKZEUGE

Mit »Google Arts & Culture« durch den Louvre in Paris oder das Munch Museum in Oslo spazieren.

Auf boiler room.tv streamen DJs live aus ihren Wohnzimmern.

Das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes versammelt hilfreiche Informationen für Künstler.

Fotos: Constantin Mirbach, YouTube/Miss Allie Music, Philipp Eisermann

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