Im eigenen Tempo lernen
Ein Münchner träumt vom »Wikipedia für Bildung« – und gründet mit Serlo eine kostenfreie Lernplattform für Schüler
Als Simon Köhl 2009 in Nepal Urlaub macht, lernt der damals gerade frischgebackene Münchner Abiturient in der Mount-Everest-Region eine buddhistische Klosterschule namens Serlo kennen. In malerischer Abgeschiedenheit erhalten die Novizen eine Schulbildung, wie sie in dieser ärmlichen Gegend selten ist. Zwar mangelt es an Schulbüchern und Unterrichtsmaterial, doch gibt es Computer und Internet per Satellit. Da hat Simon Köhl eine Idee: Wäre es nicht hilfreich, wenn es eine Art »Wikipedia für Bildung« gäbe, um Schülern und Lehrern Lehrmaterial zur Verfügung zu stellen?
Heute gibt es diese Webseite tatsächlich. Sie heißt Serlo, und gegründet wurde sie von Simon Köhl und dem Softwareentwickler Aeneas Rekkas. Bei Serlo können Schüler nachschlagen, was eine Wurzelfunktion oder ein Parallelogramm ist, sie finden Übungsaufgaben und können Lernvideos sehen; Lehrer können mit Serlo ihren Unterricht vorbereiten. Rund eine Million Nutzerinnen und Nutzer greifen jeden Monat auf Serlo zu. Zwar deckt die Webseite auch Chemie, Physik und andere Fächer ab, der Schwerpunkt liegt aber auf Mathematik. »Zurzeit konzentrieren wir uns vor allem auf ein Fach, damit wir uns nicht verzetteln«, sagt Simon Köhl im Münchner Stadtteil Sendling, wo das Team in einem luftigen Souterrainbüro arbeitet. Gemeinsam mit Finanzvorständin Ronnit Wilmersdörffer erklärt Köhl, wie sich Serlo entwickelte: Zehn Jahre nach Gründung gibt es einen Trägerverein, gut 60 ehrenamtliche Mitarbeiter und mehr als 16 000 Lerninhalte auf der Webseite. Serlo arbeitet mit Münchner Schulen und Universitäten zusammen und programmierte eine Alphabetisierungs-App für Geflüchtete. Finanziert wird Serlo vor allem aus öffentlichen Töpfen und mit Stiftungsgeldern. »Wir wollen«, so Köhl, »dass die meistgenutzte Lernplattform in Deutschland frei nutzbar, nicht profitorientiert und werbefrei ist. In drei Jahren wollen wir das mit serlo.org schaffen.«
Ronnit Wilmersdörffer und Simon Köhl glauben, dass das Web bei der Wissensvermittlung viele Vorteile hat. Wenn ein Schüler in der neunten Klasse Grundlagenwissen aus der sechsten Klasse auffrischen will, um neuen Lernstoff zu verstehen, kann er bei Serlo mit einem Klick im Lehrplan zurückspringen. Interaktive Grafiken oder Videos helfen beim Vermitteln von Inhalten. Doch die Serlo-Macher wollen nicht nur eine Materialsammlung aufbauen, sie wollen auch die Art und Weise verändern, wie Schüler lernen. »Wir wünschen uns einen Unterricht, der Neugier und Kreativität fördert«, sagt Wilmersdörffer. »Die Schüler sollen selbstbestimmt im eigenen Tempo lernen.«
Simon Köhl hat sich in der Schule selbst schwergetan. Zweimal blieb er in der zehnten Klasse sitzen – unter anderem wegen Mathe. Der Sprung in die Oberstufe gelang ihm nur dank teurer Nachhilfe. »Pro Jahr werden in Deutschland ungefähr eine Milliarde Euro für Nachhilfe ausgegeben«, erklärt Ronnit Wilmersdörffer. Schüler mit Eltern, die sich das nicht leisten können, sind automatisch benachteiligt. »Wir wollen, dass Bildung in Deutschland nicht mehr so stark von sozioökonomischen Bedingungen abhängig ist«, sagt Simon Köhl. Das sei auch der Grund, warum Serlo kostenlos ist.
Fotografie: Sorin Morar