Wischen erlaubt.
Welche Rolle sollte das Digitale im Alltag eines Kindes spielen? Eine klare Antwort gibt es auf diese Frage nicht. Was man aber sagen kann: Auf die Mischung kommt es an. Ein nachmittäglicher Besuch bei Familie Schönhofer
Die Tintenfische sind krank, sie schwimmen in einem Becken im ersten Stock von Leas Haus. »Keine Ahnung, was ich mit denen mache«, sagt Lea während ihrer Führung. »Aber schau, wie cool es hier ist!« Sie deutet auf das große Wohnzimmer. Die Treppe runter: der Pool. Draußen, zwischen Wolkenkratzern und einer Achterbahn: ein paar Pferde. Lea sitzt auf dem Boden ihres Kinderzimmers, vor sich ihr Mini-Tablet. Mit beiden Daumen bewegt sich die Achtjährige durch ihre dreidimensionale Minecraft-Welt. »Jetzt zeige ich dir die Dachterrasse, da hat man einen guten Überblick über meine Welt und fühlt sich ganz frei.« Und ab geht es durch Gänge, Räume, Stockwerke, dass einem schwindelig wird.
»Die Lea hat schon ganze Paläste gebaut«, sagt ihre Mutter Michaela Schönhofer. Sie ist fasziniert von den Welten, die ihre Tochter baut, und davon überzeugt, dass Spiele wie Minecraft die Kreativität fördern. Michaela und Wolfgang Schönhofer haben vor zwei Jahren beschlossen, dass Lea und ihr kleiner Bruder Valentin, damals sechs und vier Jahre, ein eigenes Tablet bekommen sollen.
Zwei Drittel aller Eltern sehen die Chancen, die die Digitalisierung für ihre Kinder bringt
»Mir war es wichtig, die Kinder nicht abzuschotten von den neuen Medien. Sie sollen sich ausprobieren und unter Anleitung entscheiden, was ihnen gefällt und was nicht«, sagt Wolfgang Schönhofer. Seitdem dürfen Lea und Valentin E-Books lesen, Hörbücher hören, Filme schauen und Spiele spielen. Mit diesem Vorgehen gehören die Schönhofers zu den »Digital Souveränen«. So haben Wissenschaftler in der U9-Studie »Kinder in der digitalen Welt« jene 26 Prozent aller Eltern genannt, die »ein frühes Erlernen des Umgangs mit digitalen Me-dien als unumgänglich ansehen«. Diese Eltern glauben, dass die Zukunft ihrer Kinder digital sein wird und dass die Nutzung neuer Medien so selbstverständlich zum Leben gehört »wie das Zähneputzen«. Zwei Drittel aller Eltern sehen vor allem die Chancen, welche die Digitalisierung den Kindern bringt – so zumindest haben es die Forscher vom Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet und das Sinus-Institut für das Bundesfamilienministerium herausgefunden.
Doch egal wie aufgeschlossen oder zurückhaltend Eltern sind: Smartphones und Tablets gehören zum deutschen Familienalltag. Mehr als die Hälfte der Achtjährigen und ein knappes Drittel aller Sechsjährigen ist nach den Ergebnissen der U9-Studie schon jetzt auf die eine oder andere Weise online. »Die Kinder kennen es von zu Hause, deshalb arbeiten wir auch mit dem Tablet«, sagt Anne Müller. Sie leitet den Kindergarten »Evangelisches Haus der Kinder« im schwäbischen Krumbach. Bei Müller lernen schon Vier- und Fünfjährige spielerisch das Rechnen, etwa mit der App Wonder Bunny Math Race, einem Wettlauf zwischen drei Hasen: Es gewinnt derjenige, der die Aufgaben am schnellsten löst. »Das Spiel begeistert auch Kinder, die keinen Spaß am Rechnen haben«, sagt Müller.
Die Bildungs- und Medienwissenschaftlerin ist mit ihrer Arbeit eine Pionierin, Medienerziehung gehört im »Haus der Kinder« schon seit mehr als zwanzig Jahren zum pädagogischen Konzept. Früher knipsten sich die Kinder gegenseitig mit Fotoapparaten, heute googeln sie zwischendurch am iPad Infos zu einem Dinosaurier. Für ihre Bemühungen um das »Lernen im digitalen Zeitalter« bekamen Müller und ihr Team den Deutschen Arbeitgeberpreis für Bildung.
Die Erzieherinnen suchen für ihre Kindergartenkinder immer eine Verbindung zur realen Welt
Trotz der Nachfrage ist das Angebot an kindgerechten Programmen noch überschaubar. Anne Müller spricht gar von der »Nadel im Heuhaufen«, wenn es um die Suche nach geeigneten Apps gehe. Seit Jahren bewertet sie für das Deutsche Jugendinstitut Lernspiele. Ihr ernüchterndes Fazit: Zweck der meisten Angebote ist das Geldverdienen. Zusatzerfahrungen kosten Geld und Pop-ups erzwingen die Eingabe persönlicher Daten. Müller wünscht sich daher, der Staat möge wie bei Schulbüchern mitwirken und kindergeeignete Apps fördern. »Es gibt sehr lohnenswerte Apps, die Kinder motivieren, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie sonst eher langweilig finden«, sagt Medienexperte Thomas Feibel. Er verfasst Kinder- und Jugendbücher, hält Vorträge und Seminare für Schüler, Eltern und Lehrer und ist Mitbegründer des Kindersoftwarepreises TOMMI. Referate und Aufsätze können Schulkinder nach Feibels Meinung schon ab der dritten Klasse mit dem Tablet gestalten und schreiben. Er empfiehlt etwa die App Book Creator, mit der jeder sein eigenes E-Book herstellen kann. Die App Comic Life beschreibt Feibel als PowerPoint-Nachfolger: Mit Fotos, unterschiedlichen Schriften und Effekten und natürlich mit Sprechblasen wird aus einer Buchvorstellung, einem Rezept oder einer trockenen Vorgangsbeschreibung ein bunter Comicstrip.
Lea hat jetzt Besuch, Anna-Sophie ist gekommen. Die beiden kichern und schnattern um die Wette, sie spielen ein Friseurspiel auf dem iPad und schneiden, färben, föhnen und zerzausen lustigen Spielfiguren die Haare, um sie anschließend wieder wachsen zu lassen und glatt zu kämmen. Eine halbe Stunde Spielzeit am Tag hat Michaela Schönhofer den Kindern im Kinderprofil eingestellt. Wollen sie länger online sein, müssen sie fragen. Als Lea vor zwei Jahren ihr Tablet geschenkt bekam, fragte sie viel. Die Erstklässlerin wollte wissen, was in den Sprechblasen der App FarmVille steht – und lernte so das Lesen. Bald übernahm sie Verantwortung für einen ganzen Bauernhof und folgte überlebensnotwendigen Anweisungen wie »Die Schweine haben Hunger, bitte füttere sie«.
Thomas Feibel findet, Kinder sollten mit allem lernen, das ihnen nutzt. »Tablets und Smartphones sind Alleskönner: Fotoapparat, Filmkamera, Fotoalbum, Tagebuch. Wir können mit ihnen schreiben und Musik komponieren. Und weil sie auch noch Internetzugang bieten, haben wir die Möglichkeit, alles, was wir gemacht haben, auch zu publizieren.« Lernspiele für die ganz Kleinen sieht Feibel dennoch eher kritisch: »Bei Spielen bekommen die Kinder immer eine Rückmeldung. Das Spiel sagt ihnen: ›Das hast du gut gemacht‹ oder ›Weiter so‹. Da sehe ich die Gefahr, dass speziell kleinere Kinder das freie Spiel verlernen können. Der Holzklotz, mit dem sie spielen, lobt nicht.«
Den Erzieherinnen in Krumbach reicht das reine App-Lernspiel auch nicht aus. Sie suchen für ihre Kindergartenkinder immer eine Verbindung zur realen Welt und kombinieren jedes digitale Spiel mit einem klassischen Brettspiel. So dürfen fünf Kinder an einem Tisch reihum mit dem iPad beim Hasen-Rechen- spiel eine Aufgabe lösen. In der Mitte des Tischs steht unterdessen eine flache Holzschachtel, unterteilt in zwölf Fächer. Wer am iPad das richtige Ergebnis hat, darf eines der Fächer öffnen. Mit etwas Glück wartet darunter eine von neun Tierfiguren auf ihre »Befreiung«. Dieser Wettbewerb macht den Kindern Spaß, sagt Anne Müller: ein bisschen Wettrechnen mit virtuellen Hasen, ein bisschen Wettraten mit Tieren zum Anfassen.
Auch die Schönhofers beobachten genau, was ihre Kinder mit den Tablets anstellen. Sie achten darauf, dass ihre Kinder genug »echtes Leben« abbekommen: Die Familie ist viel draußen unterwegs, unternimmt Ausflüge mit dem Rad und wandert gemeinsam. Bei einer anstrengenden Bergtour versprachen die Eltern den Kindern: »Wenn ihr durchhaltet, dürft ihr am nächsten Tag ausnahmsweise so viel mit dem Tablet spielen, wie ihr wollt.« Die Angst, beide könnten den folgenden Tag verdaddeln, war umsonst. Valentin hatte bald keine Lust mehr. »Mama«, sagte er, »ich will noch mal auf den Berg.«
Alltagstaugliche Tipps und Empfehlungen finden sich auf den Seiten des Familienratgebers SCHAU HIN! – Was Dein Kind mit Medien macht: schau-hin.info
Viele Studien und Publikationen über die digitalisierte Gesellschaft – unter anderem auch die U9-Studie – sind hier hinterlegt: divsi.de
Anregungen zum Jugendschutz im Internet und zur Förderung der Medienkompetenz gibt es auf: google.de/safetycenter
Fotografie: Myrzik & Jarisch