Lebenslanges Lernen ist elementar
Die Berliner Wirtschaftssenatorin Ramona Pop ist überzeugt, dass die Digitalisierung bei der Bewältigung der Corona-Krise hilft – wenn sie den einzelnen Menschen nicht außer Acht lässt
Frau Pop, wie hat sich Ihr Alltag durch Corona verändert?
Privat geht es mir wie vielen anderen: Die Beschränkungen des persönlichen und öffentlichen Lebens belasten. Ich sorge mich um die Gesundheit nahestehender Menschen. Und natürlich hat sich der Arbeitsalltag radikal verändert.
Inwiefern?
Eine derartige Fokussierung auf ein Thema habe ich in der Politik noch nicht erlebt. Außerdem hat das Tempo enorm zugenommen, mit dem Politik und Verwaltung Entscheidungen treffen und umsetzen. Zugleich sind viele Präsenztermine aus meinem Kalender verschwunden, viele Besprechungen haben sich ins Digitale verlagert.
Welche Veränderungen beobachten Sie bei den Unternehmen?
Für die Wirtschaft hat sich die Welt komplett verändert. Berlin hatte vergangenes Jahr drei Prozent Wirtschaftswachstum, und wir diskutierten über Fachkräftemangel und Flächenknappheit. Nun kämpfen die Unternehmen hier wie im Rest von Deutschland und Europa mit existenziellen Problemen, wobei ich die Auswirkungen unterscheide: Es gibt Unternehmen, die nach Lockerungen wieder normal weiterarbeiten können. Für andere wirkt Corona wie ein Katalysator. Probleme, die es schon vor dem Auftreten des Virus gab, haben sich drastisch verstärkt.
Wer vor der Krise digital gut aufgestellt war, hat nun einen Vorsprung
Ramona Pop
Welche Rolle spielen dabei digitale Lösungen?
Wer vor der Krise digital gut ausgestattet war, hat nun einen Vorsprung. Ich meine etwa Unternehmen mit Homeoffice-Kapazitäten, die stark auf digitale Arbeitsweisen gesetzt und auch ihre internen Abläufe digitalisiert haben. Sie sind im Vorteil gegenüber jenen, die mühsam lernen müssen, dass Teilnehmer von Besprechungen nicht mehr mit dem Billigflieger kommen können. Sie können die Krise hoffentlich nutzen, um ihre Arbeitsweise umzustellen. Aber längst nicht alle Unternehmen haben die Zeit und die finanziellen Mittel dafür. Zudem gibt es Branchen, die immer auch analog bleiben werden. Umso sensationeller finde ich, was zum Beispiel die Gastronomie an kreativen Lösungen auf die Beine gestellt hat. Doch nicht jedes Geschäftsmodell ist dafür geeignet – der Tagungsraum im Hotel bleibt leer, wenn das Meeting virtuell stattfindet.
Inmitten des Lockdowns startete die lang geplante Digitalagentur Berlin – ein glücklicher Zufall?
Es gab schon vor der Krise eine wachsende Lücke zwischen dem digitalen Mittelstand, also der Start-up-Wirtschaft, und dem klassischen Mittelstand. Letzterer hat, auch weil die Auftragsbücher oft voll waren, die Digitalisierung etwas vor sich hergeschoben. So entstand die Idee zu dieser Digitalagentur: Sie soll die Lücke schließen und die digitale mit der klassischen Wirtschaft zusammenbringen. Wir sind froh, dass wir jetzt dieses Angebot machen können. Das Thema Digitalisierung darf nicht von der Agenda verschwinden, wenn die Krise vorüber ist – schon damit Unternehmen und Gesellschaft für künftige Krisen besser gerüstet sind. Und damit meine ich nicht nur Videokonferenzen und Homeoffice. Digitalisierung heißt, Prozesse zu verändern, nicht, das Gleiche wie vorher digital zu machen.
Wie genau soll dabei die Digitalagentur helfen?
Sie berät Berliner Unternehmen in Digitalisierungsfragen wie beispielsweise IT-Sicherheit und stellt Kontakte und Kooperationen zwischen dem klassischen und dem neuen digitalen Mittelstand her.
Glauben Sie, dass Corona die Digitalisierung insgesamt beschleunigt?
Durchaus, aber mit Einschränkungen: Zum einen lassen sich manche Geschäftsmodelle nicht digitalisieren. Zum anderen fehlt in Deutschland mitunter die nötige Infrastruktur, etwa bei der Breitbandabdeckung. Jetzt zeigt sich erneut, dass der fehlende Breitbandausbau durch die Bundesregierung nicht nur ein Standort-, sondern auch ein Krisenfaktor ist.
Was bedeutet eine beschleunigte Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft?
Die Digitalisierung bietet viele Chancen, weil innovative Geschäftsmodelle entstehen, und damit Unternehmen und Arbeitsplätze. Auch hinsichtlich der Klimakrise kann sie helfen: Smarte Stromnetze beispielsweise verteilen erneuerbare Energien bedarfsgerecht und effizienter. Auf der anderen Seite besteht bei zu hohem Tempo die Gefahr, dass wir gerade im politischen Prozess Abwägungen nicht sorgfältig genug treffen, und dass Menschen nicht mitkommen, wenn es mit der Digitalisierung zu schnell geht.
Wie lässt sich mit diesem Dilemma umgehen?
Dafür muss die Politik Lösungen finden. Ein Teil davon ist, was wir im Kleinen mit der Digitalagentur vorhaben: kommunizieren und verschiedene Welten zusammenbringen. Wir müssen verhindern, dass gesellschaftliche Schichten auseinanderfallen, dass sich digitale Armut bildet. Neben dem Arbeitsplatz gehört der öffentliche Nahverkehr zu den wenigen Orten, an denen unterschiedliche Sphären sich vermischen. Wenn das wegfällt, weil mehr Menschen im Homeoffice arbeiten, kann das den Rückzug in die eigene Blase verstärken.
Teilen Sie die Befürchtung mancher Kritiker, dass der Trend zum Homeoffice Frauen benachteiligt?
Dass Frauen sich vermehrt um Sorgearbeit und den Haushalt kümmern, ist kein Problem der Digitalisierung oder des Homeoffice, sondern liegt an den immer noch vorherrschenden traditionellen Vorstellungen der Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen. Digitalisierung ist geschlechtsneutral, ja gibt sogar die Chance, Arbeiten neu zu verteilen. Tatsächlich hat sich im Zuge der Corona-Krise gezeigt, dass offenbar mehr Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit bei Frauen hängen bleibt, wenn beide Partner im Homeoffice arbeiten.
Sehen Sie auch Auswirkungen jenseits der Geschlechterrollen?
Auch soziale Spaltung kann dadurch verstärkt werden: Wer Regale einräumt, kann sich nicht in die geschützten eigenen vier Wände zurückziehen. Ich finde es richtig, wenn die Unternehmen sich so aufstellen, dass Homeoffice auch in normalen Zeiten stärker genutzt werden kann. Doch sie sollten darauf achten, dass nicht nur der büroarbeitende Teil der Belegschaft profitiert, während die anderen wie bisher arbeiten müssen.
Manche sagen: Die Digitalisierung verändert Arbeit nicht nur, sie bedroht auch Arbeitsplätze.
Ich glaube nicht, dass neue Technologien in Summe Arbeitsplätze kosten. Es finden Strukturveränderungen statt, bei denen sich Arbeitsplätze in andere Bereiche verschieben. Mich treibt allerdings um, dass dadurch tendenziell hoch qualifizierte Jobs entstehen, vor allem im IT-Bereich, während Arbeitsplätze für weniger gut qualifizierte Menschen abnehmen. Deshalb ist lebenslanges Lernen elementar: Wir müssen die Menschen entsprechend der erhöhten Anforderungen aus- und weiterbilden, damit wir niemanden zurücklassen. Das ist Aufgabe der Politik, aber auch der Unternehmen, die ja ein Interesse an vielen gut qualifizierten Mitarbeitern haben.
Wie machen Sie als Wirtschaftspolitikerin Menschen Mut, die gerade mit Sorge in die Zukunft blicken?
Ich will die Dinge nicht schönreden. Uns alle sucht eine heftige, globale Krise heim. Eine Krise, die übrigens auch eine Ursache im Eingriff in sensible Ökosysteme hat und eine Vorwarnung für die Klimakrise ist. Aber gerade in Berlin haben wir in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach schwierige Zeiten erlebt und sie mit Kreativität, Offenheit und Innovationskraft bewältigt. Das werden wir auch diesmal schaffen.
Fotografie: Felix Brüggemann