Regionale Nachrichtenoffensive
Lokalredaktionen beschäftigen sich heute intensiv mit den Bedürfnissen ihres Publikums. Sie bündeln Prozesse und investieren frei gewordene Ressourcen in Qualität. Wie die Digitalisierung den Journalismus vor Ort effizienter und besser macht
Den ersten Ausflug ins Digitale wagte das Medienhaus Aachen schon in den 1990er-Jahren. Zwei Jahre lang erschien eine digitale Abendzeitung, die zwar Preise und Lob bekam – »doch verkauft haben wir keine relevante Anzahl«, sagt Geschäftsführer Andreas Müller. Lange lief das Digitalgeschäft nur nebenher. Ein paar Redakteure interessierten und kümmerten sich, der Rest beschäftigte sich mit der gedruckten Ausgabe. »Das war die einzige Währung, die damals zählte«, erklärt Müller. »Wenn das Digitale nur nebenbei läuft, fühlen sich die wenigsten dazu berufen, sich reinzuhängen.«
Von Print zu Online
Inzwischen haben sich die Gewichte deutlich verschoben. Seit 1995 sind die Auflagen der lokalen und regionalen Abonnementzeitungen in Deutschland laut Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (ivw) von 18 auf gut zehn Millionen gesunken. Online dagegen steigen die Umsätze seit Jahren kontinuierlich. Nach Berechnungen des Fachmagazins pv digest erzielten regionale Tageszeitungen 2019 250 Millionen Euro mit Bezahlinhalten, der Verkauf digitaler journalistischer Inhalte stieg allgemein um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Langfristig müssen alle Verlage umdenken, um auch in Zukunft profitabel zu sein.
Das Medienhaus Aachen, das mit der Aachener Zeitung und den Aachener Nachrichten zwei Tageszeitungen herausgibt, außerdem Magazine und kostenlose Wochenzeitungen, reagierte 2016 auf diese Entwicklung: mit einem digitalen Neustart. Anders als in den 90ern sollte das Digitale zur Hauptsache für das gesamte Unternehmen werden. Alle Angestellten – vom Drucker über die Anzeigenverkäuferin bis zum Chefredakteur – mussten Kurse belegen. Um neue Ressourcen zu schaffen, legte das regionale Medienunternehmen alle Redaktionen zusammen und stellte die verschiedenen Publikationen unter eine Leitung.
Solche Maßnahmen waren lange undenkbar. Die Strukturen in Lokalzeitungen waren festgefahren. »Es gab keinen Grund, etwas zu ändern«, sagt Dominik Kühner von der Neuen Pressegesellschaft (NPG) aus Ulm, die digitale und gedruckte Medien in Baden-Württemberg und Brandenburg herausgibt, darunter die Südwest Presse (SWP). »Im Lokaljournalismus gab es lange nur wenig Konkurrenz, weil in manchen Regionen nur eine Lokalzeitung erscheint«, sagt Kühner, der das Paid-Content-Angebot von swp.de verantwortet. »Wer sich lange auf seine klassischen Abonnenten verlassen hat, muss erst lernen, die Menschen online jeden Tag von den Inhalten zu überzeugen.« Viele Lokalverlage in Deutschland leben bis heute vom Printgeschäft, in das auch die meiste Energie fließt. Häufig ist es nicht gelungen, digitale Geschäftsmodelle zu etablieren. Deshalb fokussiert sich der Verlag darauf, ein digitales Abo-Modell aufzubauen.
Wie die NPG in Ulm hat auch das Medienhaus Aachen seine Redaktionssysteme zentralisiert. Alle Inhalte der gesamten Verlagsgruppe entstehen in einem einheitlichen Redaktionsprogramm. In Aachen kommunizieren die Medienschaffenden über Messenger-Dienste, und alle Abteilungen greifen auf ein Projektmanagement-Tool zu, das eine gemeinsame Themen- und Projektplanung ermöglicht. Die Digitalisierung führt dazu, dass in Lokalredaktionen besser, weiter vorausgeplant wird. »Wir überlegen nicht erst morgens, was tagsüber ansteht«, sagt Müller.
Für seinen Ulmer Kollegen Dominik Kühner war ein Meilenstein erreicht, als Print- und Onlineredaktion anfingen, Themen gemeinsam zu planen und sich auf Augenhöhe auszutauschen. Er spricht von einem »kulturellen Wandel« im Haus. Jeden Morgen beschäftigt sich die Redaktion mit den Zahlen, die auf der Website erfasst und von den Fachleuten der NPG Digital aufbereitet werden: Was führt zu Abos? Wie lange bleiben Abonnenten erhalten? »Die Redakteurinnen und Redakteure sollen durch die tägliche Analyse von Leserdaten ein Gefühl dafür bekommen, welche Artikel gelesen werden, welche Themen beliebt sind – und welche nicht«, sagt Kühner. Die Auswirkungen des Coronavirus auf den Schulbetrieb interessieren zum Beispiel besonders viele. Als die Redaktion dazu gezielt mehr Artikel veröffentlichte, stiegen die digitalen Abo-Zahlen.
Neue Experimentierkultur
Sowohl die NPG als auch das Medienhaus Aachen sammeln stetig Impulse für Neuerungen, beide nahmen am Digital Growth Programme von Google teil (siehe Kasten unten). In Lokalredaktionen setzt sich langsam eine Experimentierkultur durch, Strukturen werden hinterfragt. Die vielen gedruckten Lokalausgaben, die zum Medienhaus Aachen gehören, orientieren sich bis heute streng an kommunalen Grenzen. »Was im nächsten Ort passiert, findet in der Zeitung nicht statt«, sagt Müller. »Mit den Lebensgewohnheiten und Interessen der Menschen hat das nicht viel zu tun.« Anders als in der gedruckten Zeitung, in der man schwer messen kann, wie einzelne Inhalte die Leser erreichen, lassen sich online Zielgruppen definieren und bedarfsgerecht bedienen: Gastronomie-Interessierte zum Beispiel oder Menschen, die sich über lokalen Sport oder regionale Wirtschaft informieren. In Aachen sind kleine Teams für Newsletter und Zielgruppen-Inhalte verantwortlich.
Durch das Analysieren finden Redaktionen auch heraus, was sie sich sparen können: Die Berichterstattung zur Hauptversammlung der Feuerwehr etwa erzielt keine hohen Lesequoten, auch weil jeder Verein heute über eine eigene Website und Social-Media-Accounts selbst kommunizieren kann. Die Aachener haben diese Form der Berichterstattung in ihre kostenlosen Anzeigenblätter ausgelagert, die lange Tradition in der Region und eine hohe Akzeptanz im lokalen Werbemarkt haben. Die eingesparte Arbeitszeit fließt in Qualitätsjournalismus: »Wir leisten uns einen Autoren-Pool aus acht sehr erfahrenen Redakteuren, die von allen organisatorischen Aufgaben befreit sind und dafür sehr gründlich lokale und regionale Themen für Print und Online aufarbeiten«, sagt Müller. Seit 2013 liefert außerdem eine Video-Einheit Nachrichtenclips zu wichtigen Themen.
»Uns ist mittlerweile völlig egal, welches Produkt eine Kundin oder ein Kunde bezieht – die gedruckte Zeitung, das E-Paper oder den Digitalzugang«, sagt Müller. »Für uns ist wichtig, dass die Menschen unsere Arbeit wertschätzen und dafür bezahlen.« Die Auflage der beiden Zeitungen sei auf unter 100 000 gesunken, erklärt Müller. Die Online-Abos hat das Medienhaus Aachen 2019 dagegen verdoppelt. Die aktuell 13 000 Digital-Abonnenten will er 2021 erneut verdoppeln.
Fotos: Julia Sellmann, Constantin Mirbach
Tipps für höhere Umsätze
Den offenen Austausch zwischen Lokalverlagen fördert Google mit Programmen wie dem Digital Growth Programme. Von diesem Trainings- und Mentoring-Programm, das sich vor allem an kleine bis mittelgroße Verlage richtet, hat auch Dominik Kühner von der Neuen Pressegesellschaft profitiert: »Für uns kam das Programm genau zur richtigen Zeit«, sagt er. »In einer intensiven Woche vermittelten uns exzellente Fachleute technisches Wissen, Ratschläge und neue Erkenntnisse rund um die Steigerung von Einnahmen.« Externe Partner wie Financial Times Strategies führen die einzelnen Angebote durch. Teil des Digital Growth Programme ist auch das Coaching-Programm »Table Stakes Europe« des weltweiten Zeitungsverlegerverbandes WAN-IFRA und der Google News Initiative. Daran hat Andreas Müller vom Medienhaus Aachen teilgenommen. goo.gle/digital-growth