Deutschland Digital
Wirtschaftsforscher haben erstmals die Webseiten von vier Millionen Unternehmen in Deutschland untersucht. Was sagen die Ergebnisse über die Digitalisierung der Wirtschaft? Ein Gespräch mit IW Consult-Geschäftsführer Dr. Karl Lichtblau
Wie lässt sich der Stand der Digitalisierung in der deutschen Wirtschaft feststellen? Für viele Studien werden Unternehmer um ihre Einschätzung gebeten. Ein Problem dabei: Die Ergebnisse der Erhebungen lassen sich nur schwierig über die Jahre hinweg vergleichen. In welcher Branche, in welcher Region gab es Fortschritte zu verzeichnen? Solche Fragen mussten bislang stets unbeantwortet bleiben. Die Experten von beDirect und DATAlovers haben deshalb gemeinsam mit den Wirtschaftsforschern der IW Consult ein Werkzeug entwickelt, mit dem die Digitalisierung einer Organisation von außen beobachtet werden kann. Es erfasst zum Beispiel die Sichtbarkeit und Vernetzung eines Unternehmens in der digitalen Welt, die Verbreitung moderner Webtechnologien oder Aspekte der Digitalität des Kundenprozesses. So wird eine wichtige Facette der Digitalisierung erfasst und bewertet.
Mit den gesammelten Werten lässt sich für jede Webseite ein Digitalindex errechnen, kurz DI. Dieser DI beschreibt das digitale Gesicht eines Unternehmens oder einer Organisation. Perfekt digitalisiert erscheinende Unternehmen werden mit 100 bewertet, Firmen ohne Webseite mit dem Wert 0.
Herr Lichtblau, der Digitalindex beschreibt die digitale Außenansicht der Firmen und Organisationen in Deutschland. Welches Zeugnis stellen Sie der Wirtschaft aus?
Der Durchschnittswert für ganz Deutschland beträgt 4,1. Wenn man bedenkt, dass der Höchstwert bei 100 liegt, ist das ein sehr niedriger Wert. Er zeigt, dass wir bei der Digitalisierung noch ganz am Anfang stehen.
Um in Schulnoten zu sprechen: mangelhaft, Versetzung gefährdet?
Nein, das wäre zu pauschal. Man muss sich genauer anschauen, wie die Zahl zustande kommt. Es gibt eine Spitzengruppe mit Unternehmen, die Werte von 35 und mehr aufweisen. Das ist beachtlich. Allerdings gehören dazu nur ein Prozent aller erfassten Firmen und Organisationen. Mehr als die Hälfte hat gar keine Webseite. Die Kluft zwischen dieser Avantgarde und denen, die hinterherhinken, ist also groß.
Wie erklären Sie sich diese Kluft?
Sie hat zum Beispiel etwas mit der Unternehmensgröße zu tun: Je größer die Firma, desto höher ist in der Regel auch der Indexwert. Kleine Firmen tun sich dagegen schwer, neue Technologien zu nutzen. Und natürlich braucht nicht jeder Kiosk seine eigene Webseite.
Durchblick in Jena
Jena ist einer von Ostdeutschlands Leuchttürmen. Beim Digitalisierungsindex von beDirect, DATAlovers und IW Consult schneidet die Stadt besser ab als Berlin, Leipzig oder Dresden. Das liegt einerseits an der Universität mit ihrer internationalen Forschung, andererseits an mehreren weltweit tätigen Unternehmen: Der Medizintechnik-Konzern Carl Zeiss Meditec ist vor allem für die Zeiss-Gläser bekannt, verkauft aber auch eine eigene Virtual-Reality-Brille. Jenoptik arbeitet an optischen Systemen, Laser-Anwendungen und Messtechnik. Intershop bietet E-Commerce-Lösungen an, die weltweit agierende Firmen wie BMW, Deutsche Telekom oder Hewlett-Packard nutzen.
Digitalisierung ist also kein Wert an sich?
Man kann heute sehr erfolgreich wirtschaften, ohne digital gut aufgestellt zu sein. Vielleicht wird das auch in 50 Jahren noch so sein. Aber digitale Geschäftsmodelle und Produkte werden in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen. Insofern lohnt es sich für jedes einzelne Unternehmen, sich zu fragen, was die Digitalisierung für das eigene Geschäft bedeutet. Wir hoffen, dass unsere Studie die einzelnen Firmen zu einer Bestandsaufnahme anregt: Wie stehe ich digital da? Was bedeutet die Digitalisierung für meinen Betrieb? Wie sieht meine Strategie für die Zukunft aus?
Sie haben die Daten mit einem Webcrawler gewonnen. Dabei handelt es sich um einen Algorithmus, der zu jeder Webseite viele Tausend Informationen sammeln und analysieren kann. Wieso haben Sie sich für dieses technische Verfahren entschieden? Hätte es eine Befragung nicht auch getan?
Empirische Befragungen haben ihren Wert, und wir wollen sie mit unserem Messinstrument auch nicht ersetzen. Aber sie haben drei Nachteile: Sie sind arbeitsaufwendig, sie sind teuer, und sie können sich nur mit Stichproben befassen. Mit unserem Algorithmus haben wir mehr als vier Millionen Firmen und Organisationen betrachtet – das kommt einer Vollbefragung sehr nahe. Unser Verfahren ist vergleichsweise günstig. Und unsere Kriterien sind für jeden nachvollziehbar.
Vorreiter an der See
Kein Hotel kommt heute ohne eine ansprechende Webseite und ein Online-Buchungssystem aus. Das erklärt, warum die Landkreise Vorpommern-Rügen, Nordwestmecklenburg und Mecklenburgische Seenplatte im Digitalindex von beDirect, DATAlovers und IW Consult vergleichsweise gut abschneiden. Mecklenburg-Vorpommern ist mittlerweile zusammen mit Bayern das beliebteste innerdeutsche Reiseziel. Besonders beliebt ist Rügen: Die Insel hat zwar nur 70 000 Einwohner, zählte im vergangenen Jahr aber 1,4 Millionen Gäste.
Welche Kriterien fließen denn in die Bewertung ein?
Der Algorithmus analysiert die Webseiten anhand acht verschiedener Dimensionen – zum Beispiel, welche Technologien auf der Webseite verwendet werden, wie ein Unternehmen soziale Medien nutzt oder wie eine Webseite verlinkt ist. Daraus errechnet das Programm, wie digital ein Unternehmen erscheint.
Was ist mit Unternehmen, die zum Beispiel in der Fertigung hoch digitalisiert sind und Roboter einsetzen, aber eine alte Webseite haben, weil sie für die Kunden nicht wichtig ist: Werden Sie so einem Unternehmen mit Ihrem Verfahren gerecht?
Stimmt, wir können mit unserem Algorithmus nur auswerten, wie sich ein Unternehmen nach außen darstellt. Allerdings analysieren wir auch, ob auf der Webseite Schlagworte vorkommen, die auf den Einsatz digitaler Techniken hinweisen. Wenn das Unternehmen auf seiner Webseite erklärt, wie es Roboter einsetzt, wird sich sein DI dadurch erhöhen.
Heimat der Weltmarktführer
Der Kreis Olpe mit seinen 135 000 Einwohnern gehört zum Sauerland, einer ländlichen Region südöstlich des Ruhrgebiets. Die größten Städte hier heißen Lennestadt, Olpe und Attendorn. So unbekannt diese Ecke des Landes dem einen oder anderen sein mag, so überdurchschnittlich schneidet die Wirtschaft im Digitalindex von beDirect, DATAlovers und IW Consult ab. Im Landkreis Olpe etwa sind Firmen zu Hause wie Mubea, ein Weltmarktführer für Autofedern, oder Viega, ein Spezialist für Installationstechnik. Hidden Champions nennt man solche Unternehmen: Den meisten Menschen sind sie kein Begriff, in ihrer Branche gehören sie aber weltweit zu den Besten. Auch, weil sie besser digitalisiert sind als ihre Mitbewerber.
Einer der Faktoren, die Sie analysieren, ist die Verwendung sozialer Medien. Nun gibt es Unternehmen, die vielleicht gar kein Interesse an einem professionellen Auftritt auf Facebook haben.
Ja, unser DI ist deshalb nur ein Anhaltspunkt zum Stand der Digitalisierung. Für einen direkten Vergleich raten wir, sich Mitbewerber aus der gleichen Branche und mit ähnlicher Größe anzusehen. Sonst vergleicht man Äpfel mit Birnen.
Sie haben anhand der Daten das digitale Erscheinungsbild von Städten, Bundesländern oder Branchen bestimmt. Welche Trends sind Ihnen aufgefallen?
Universitätsstädte haben überdurchschnittlich gute Werte. Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle. Das Ergebnis hängt aber auch stark von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab. Viele Ruhrgebietsstädte schneiden zum Beispiel schwach ab, ländliche Gegenden mit erfolgreichen Unternehmen schnitten dagegen vergleichsweise gut ab.
Nachholbedarf in Flächenstaaten
Der verstorbene Bundespräsident Roman Herzog brachte die bayerische Wirtschaft auf die prägnante Formel »Laptop und Lederhose«. Tatsächlich zählen Städte wie München und Nürnberg zu den Spitzenzentren der IT-Branche. Im Digitalindex von beDirect, DATAlovers und IW Consult landet Bayern dennoch nur auf einem mittleren Platz. Die Ursache findet sich in einer anderen Statistik: Mehr als die Hälfte der bayerischen Bevölkerung lebt auf dem Land, das tendenziell schlechter digitalisiert ist.
Welche Branchen schlagen sich gut?
Die Informationstechnik, die verarbeitende Industrie und der Gesundheitssektor verfügen über eine recht hohe digitale Reife. Was mich überrascht hat, war das schlechte Ergebnis für das Baugewerbe. Dabei könnte man mit digitalen Techniken hier viele Kosten einsparen und effizienter arbeiten, zum Beispiel beim Einkauf von Materialien oder der Organisation der Gewerke auf der Baustelle. Außerdem ermöglicht es das Internet ja auch Baufirmen, Kunden besser anzusprechen. Man könnte Interessenten zum Beispiel eine Oberfläche anbieten, mit der sie ihre Wohnung selbst gestalten. Im Moment scheinen nur wenige diese Chancen zu nutzen.
Sie veröffentlichen den Digitalindex zum ersten Mal für ganz Deutschland. Wollen Sie die Ergebnisse laufend aktualisieren?
Wir erheben die Daten alle sechs Monate neu und wollen sie in Zukunft einmal im Jahr veröffentlichen. Dann kann man auch sehen, ob sich einzelne Firmen, Branchen oder Regionen verbessert haben. Man sollte aber keine großen Sprünge erwarten. Die ersten Zahlen haben wir vor zwei Jahren erhoben und festgestellt, dass die Entwicklung langsam verläuft.
Mehr zum Thema auf iwconsult.de.
Illustration: Christine Rösch; Infografik: Julia Franziska Kraus