Per Videokonferenz zum Abitur
Schulschließungen haben das deutsche Bildungssystem vor völlig neue Herausforderungen gestellt, über Nacht gewannen digitale Unterrichtsmethoden an Bedeutung. Ein Erfahrungsbericht von der August-Dicke-Schule, einem Gymnasium in Solingen
Tom* wirkt ein bisschen nervös, vor allem aber konzentriert. »Amerika war einmal eine britische Kolonie«, sagt seine Lehrerin auf Englisch und fragt dann: »Auf welche Länder trifft das noch zu?« Tom überlegt kurz, ehe er auf Englisch über Indien zu sprechen beginnt. Er ist gut vorbereitet, auch die Nachfragen beantwortet er ausführlich. Tom ist hörbar erleichtert, als die Befragung vorüber ist und die Lehrerin seine Leistung lobt. Immerhin war das gerade kein einfaches Ausfragen, es war eine realitätsnahe Simulation der mündlichen Abiturprüfung in Englisch. Und auch die Umstände sind alles andere als gewöhnlich: Statt im Klassenzimmer sitzt Tom zu Hause vor seinem Computer. Die Lehrerin und die Mitschülerinnen und Mitschüler seines Kurses hören und sehen ihn per Videokonferenz über die Bildschirme ihrer Laptops und PCs.
Die virtuelle Schule ähnelt in mancherlei Hinsicht der echten
»Ich habe meine Klassen online zum Abitur geführt«, sagt Petra Hobrecht mit gelassener Stimme, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Dabei gilt gerade Deutschland nicht als Vorbild für digitale Bildung. Im Gegenteil: Als Ende 2019 die zweite Auflage der internationalen Vergleichsstudie »International Computer and Information Literacy Study« (ICILS) erschien, welche die Digitalkompetenz von Achtklässlern untersucht, waren hierzulande kaum Fortschritte zu erkennen. Wie schon 2013 schnitten deutsche Schüler im 14-Länder-Vergleich nur mittelmäßig ab. Noch schlechter sah das Zeugnis für die Schulen aus: Nur gut drei Prozent der Lehrer bekommen einen Computer gestellt, so wenige wie in keinem anderen der untersuchten Länder. Während sich in Dänemark 97 Prozent der Schüler und Lehrer über digitale Lernplattformen austauschen, lag die Quote in Deutschland im Untersuchungszeitraum 2018 nur bei 17 Prozent.
Petra Hobrecht und ihre Klassen gehörten schon vor der Corona-Zeit zur fortschrittlichen Minderheit. Die Gymnasiallehrerin für Englisch und Mathematik befasst sich seit Jahren mit digitalen Medien in der Schulbildung. Unter anderem organisierte sie an ihrem Gymnasium, der August-Dicke-Schule (ADS) im nordrhein-westfälischen Solingen, die Anschaffung von elektronischen Tafeln und Tablet-Computern für die Oberstufe. Mithilfe der Tablets können die Schüler auch auf die elektronische Tafel zugreifen und gemeinsam Aufgaben lösen. Die zu bearbeitenden Dateien werden über »Google Classroom« ausgetauscht, einer Anwendung innerhalb von G Suite for Education, in der Lehrkräfte ihren Schülern Aufgaben zuweisen können.
Als im Zuge der Corona-Krise die Schulen in Nordrhein-Westfalen schlossen, erkannte Petra Hobrecht schnell: Was sie in ihren Kursen bereits gelebt hatte, könnte die gesamte Schule durch die Schließzeit tragen. Gleich am ersten Tag des Lockdowns überzeugte sie einen Großteil der Kollegen von Google Classroom. Dabei wurde auch über Datenschutz diskutiert. Dem trägt die Schule Rechnung, indem sie ein zentrales Konto für die Plattform anlegt und die Schülerinnen und Schüler sich dort pseudonymisiert und nur für schulische Zwecke bewegen. Zwei Tage später waren 700 Schüler ab der siebten Jahrgangsstufe über individuelle E-Mail-Adressen, die weder Vor- noch Nachnamen enthalten, mit der Plattform verbunden. »Wir haben sogar noch Anleitungen für die Lehrer und die Schüler verfasst«, erinnert sich Hobrecht. »Dann konnte es losgehen.«
Auf der Classroom-Plattform regulieren Lehrkräfte den Zutritt
Die virtuelle Schule, die an der ADS in kürzester Zeit ihre Pforten öffnete, ähnelt in mancherlei Hinsicht der echten. Auf der Classroom-Plattform richten Lehrkräfte ihre Kurse ein, aber auch Bereiche, zu denen die Kinder keinen Zutritt haben – zum Beispiel ein Lehrerzimmer, in dem sich das Kollegium über die Erfahrungen mit dem digitalen Unterricht austauscht. Die Schüler wiederum nutzen für jedes Fach einen eigenen Bereich, in dem die jeweilige Lehrkraft Aufgaben einstellt und korrigiert, aber auch Erklärungen postet und Fragen beantwortet.
Neben dem schriftlichen Austausch binden Hobrecht und ihre Kolleginnen und Kollegen immer wieder Unterrichtsstunden mit Videoübertragung ein, in denen sich Lernende und Lehrende zumindest ähnlich wie im Kopfhörer auf, Computer und Tablet hochfahren, ab ins virtuelle Klassenzimmer: Lehrerin Petra Hobrecht beim Unterrichten. Klassenzimmer austauschen können. »Der intuitive Umgang vieler Schüler mit der Technik ist von Vorteil«, sagt Hobrecht mit Blick auf die vielfältigen digitalen Anwendungsmöglichkeiten. Weil sich etwa mathematische Gleichungen schneller per Hand als über die Tastatur formulieren und bearbeiten lassen, tun Hobrechts Schüler das auch. Danach fotografieren sie den Lösungsweg mit dem Smartphone und laden ihn direkt über die Classroom-App ins virtuelle Klassenzimmer.
Ich kann mir gut vorstellen, dass nun viele Vorbehalte von Eltern, aber auch Lehrern abgebaut werden und die Akzeptanz für digitale Unterrichtsmethoden steigt
Petra Hobrecht Gymnasiallehrerin August-Dicke-Schule Solingen
»Wir haben von Schülern, Eltern und Lehrern nur positives Feedback bekommen«, bilanziert Petra Hobrecht nach den ersten Wochen ohne Präsenzunterricht, die sie genauso wie ihre Klassen zu Hause verbracht hat. Am meisten vermisst hat sie dabei die realen sozialen Kontakte mit ihren Zöglingen und dem Kollegium. Die technische Ausstattung der Lernenden und Lehrenden ist an der ADS kein wirkliches Problem. Ihr ist aber auch bewusst, dass die Voraussetzungen für digitales Lernen an vielen deutschen Schulen deutlich schlechter sind: Längst nicht alle Kinder haben zu Hause Zugriff auf Computer, längst nicht alle Eltern können beim Heimunterricht unterstützen. Viele Experten befürchten, dass dadurch Kinder aus sozial schwächeren Haushalten deutlich benachteiligt werden und die Chancenungleichheit im Bildungssystem wächst. Sie fordern deshalb, diese Familien besser mit digitaler Ausstattung und Betreuungsangeboten zu fördern.
Petra Hobrecht hofft, dass sich die Perspektive auf das digitale Unterrichten verändert. »Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Vorbehalte von Eltern, aber auch Lehrern abgebaut werden und die Akzeptanz für digitale Unterrichtsmethoden steigt«, sagt die Lehrerin. Für sie wäre das, nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema, ein persönlicher Erfolg. Für Deutschland könnte diese Entwicklung einen Weg aus dem internationalen Mittelfeld in Sachen schulischer Digitalkompetenz bedeuten.
*Name geändert
DIGITALE WERKZEUGE
Unter dem Motto »Schule von zu Hause« stellt Google viele Anwendungen zum Unterricht von zu Hause sowie Links rund um digitale Bildung zur Verfügung.
Im März und April 2020 trugen Hunderte Freiwillige eine »Wissensbasis für zeitgemäße Bildung online« zusammen und veröffentlichten die Ergebnisse.
Die FWU-Mediathek hält Tausende von Unterrichtsfilmen, Arbeitsblättern und Bildergalerien entsprechend den Lehrplänen der Bundesländer vor.
Eine umfangreiche Auflistung von Apps, digitalen Werkzeugen und innovativen didaktischen Methoden findet sich auf den Seiten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
»Anton – Lernplattform für die Schule« ist eine kostenlose und werbefreie App für Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 mit 10 für die Fächer Deutsch, Mathematik, Biologie und Sachunterricht.
„fragFINN« ist eine Suchmaschine für Kinder bis 12 Jahre. Kinder finden dort nur altersgerechte und von Medienpädagogen überprüfte Internetseiten.
Die Videoplattform YouTube versammelt hochwertige Erklärfilme zu unterschiedlichen Fächern unter den Links youtube.com/learning sowie learnathome.withyoutube.com/intl/de.
»planet schule« ist das gemeinsame Internetangebot des Schulfernsehens von SWR und WDR und bietet Filme, Spiele und interaktive Angebote für das Lernen zu Hause.
Die ARD bündelt ihre Lernangebote für Schüler aller Altersklassen auf einer eigenen Website. Das ZDF führt seine Informationen auf dieser Seite zusammen.
Fotos: Max Brunnert