Digitale Lösungen für soziale Probleme
Ein Gespräch mit betterplace-Gründerin Joana Breidenbach über das Wesen gelungener Hilfe und den tieferen Sinn von Engagement
Frau Breidenbach, wie steht es um das Engagement der Deutschen?
Was Deutschland wirklich auszeichnet, ist eine sehr breit gefächerte Ehrenamtslandschaft. Dazu gehören auch all die Sportvereine oder Kitas, in denen Übungsleiter und Elternsprecher ganz selbstverständlich ehrenamtliche Tätigkeiten übernehmen.
Also alles in bester Ordnung?
Ja – wären da nicht auch besorgniserregende Trends. Viele Leute sind nicht mehr bereit, langfristige Engagements zu übernehmen und sich zu verpflichten, zum Beispiel jeden Dienstag etwas Bestimmtes zu machen. Das hat mit unserem Lebensstil zu tun: Man möchte sich nicht mehr so festlegen, alles wird dezentraler und flexibler. Aber es gibt neue Formen des Engagements, und da kommt das Digitale ins Spiel: Es gibt das Online-Ehrenamt, es gibt Online-Spenden, und Sie können mit Online-Fundraising im Internet nach Geldgebern für ein Projekt suchen.
Online-Ehrenamt? Wie soll das gehen?
Man kann sich am Rechner einbringen, zwischen dem Abendessen und einer Folge Game of Thrones, etwa bei den »Digital Humanitarians«: Die versenden nach Naturkatastrophen weltweit Satellitenfotos an Tausende von Ehrenamtlichen. Sie werten sie aus und markieren Schäden und Überflutungen und unterstützen so Helfer vor Ort.
Aber was passiert mit dem »analogen« Engagement? Das kann man so doch nicht ersetzen.
Natürlich nicht, das ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Ich war auch im Vorstand der Kita meiner Kinder – neben meinen sonstigen Tätigkeiten. Es braucht einen Online-offline-Mix. Vor ein paar Jahren dachte man noch, Technologie würde alles besser machen, diese oder jene App werde die Welt retten. Von dieser Annahme geht man mehr und mehr weg.
Das müssen Sie erklären.
Ich begleite selbst Flüchtlinge, die in Deutschland angekommen sind. Im Rahmen der Flüchtlingshilfe sind in den vergangenen Jahren viele Plattformen und Tools entstanden. Die meisten haben das Ziel, den Geflüchteten – die fast alle ein Smartphone haben – beim Spracherwerb zu helfen, sie in den Job- und Wohnungsmarkt zu integrieren. Aber das funktioniert nicht rein online. Ich engagiere mich zum Beispiel für die »ReDi School of Digital Integration«. Das ist eine Initiative für Flüchtlinge, die Informatik studiert haben oder Programmierer sind. Sie sollen mit Fortbildungen einen leichteren Einstieg in die Digitalindustrie bekommen. Das ist sicher wichtig, aber eigentlich geht es erst mal um Menschen, die traumatisiert sind und die sich in einer anderen Gesellschaft zurechtfinden müssen.
Das heißt, digital gesprochen: Die User haben andere Bedürfnisse als gedacht?
Genau, es geht um menschlichen Kontakt, auch mal um eine Schulter zum Ausweinen. Das ist übrigens ein Problem, das viele Engagierte haben, die ihre eigenen Vorstellungen in andere hineinprojizieren. Sie handeln nach dem Motto: Das bräuchten doch die Armen. Für den Realitätscheck hilft es nur, sich ständig selbst zu überprüfen und nah an der Gruppe zu sein, für die man etwas macht. Bei der ReDi School war schnell klar: Wir machen das mit Präsenzseminaren, in denen man sich trifft und jenseits der beruflichen Ausbildung austauscht.
Viele wollen helfen und haben gute Ideen. Trotzdem wird oft nichts daraus. Warum?
Ich glaube, das ist ein psychologischer Mechanismus: In dem Moment, in dem ich eine Idee habe und sie mit niemandem teile, bleibe ich in einem sicheren Raum. Wenn ich mit der Idee aber rausgehe und anderen davon erzähle, muss ich etwas von mir zeigen, ins Risiko gehen. Da frage ich mich schnell: Darf ich das? Kann ich so groß denken? Es braucht einen gewissen Mut. Und man verpflichtet sich – obwohl es doch viel verlockender ist, am Wochenende im Bett zu bleiben, statt auf einem Basar rumzustehen.
“Wenn sich mehr Menschen engagieren würden, dann hätten wir nicht so viel Unzufriedenheit”
Joana Breidenbach Gründerin von betterplace.org, der Fundraisingplattform für soziale Projekte
Wie überwinde ich mich?
Ich habe fast alle meine Projekte im Tandem gemacht. Deshalb rate ich jedem: Such dir Verbündete! Gibt es jemanden in deiner Umgebung, mit dem zusammen du das gerne machen würdest? Oder gibt es schon eine Organisation, die Ähnliches macht? Es gibt so viele Anlaufstellen, gerade auch online.
Sie haben mal gesagt, dass Sie berauscht davon seien, etwas verändern zu können. Was bedeutet Ihnen Engagement?
Für mich ist Engagement die Art, wie wir mit der Welt intim werden. Wir alle sehnen uns doch nach einem Sinn, der über unsere kurze Lebenszeit hinausgeht. Wenn man nur ein bisschen zu einem größeren Ganzen beitragen kann, dann bedeutet das eine Vergrößerung des eigenen Spielfelds. Es gibt nicht nur die Welt und uns. Wir sind die Welt. Wenn sich mehr Menschen engagieren würden, dann hätten wir nicht so viel Unzufriedenheit, Pessimismus und Rechtspopulismus in der Welt. Egal, wo ich mich einsetze: Ich lerne etwas. Und das ist total befriedigend. Wenn mir jemand sagt: »Das ist so selbstlos, was Sie da machen!«, dann sage ich: »Nein, mein Gott, das ist es nicht!«
Sie finden in sozialem Engagement Ihren Lebenssinn?
Den kann man dabei finden, jawohl. Ich habe zur Depression veranlagte Freunde, die im Lauf der Flüchtlingskrise regelrecht erwacht sind und zu ihrem eigenen Erstaunen gesehen haben, dass es anderen viel schlechter geht als ihnen. Sie haben ihre eigene Situation relativiert und sich so lebendig gefühlt wie noch nie zuvor in ihrem Leben – weil sie sich engagiert haben.
Illustration: Francesco Ciccolella, Foto: © Female Founders Book