»Nie war Journalismus so wichtig«
Die Arbeit unabhängiger Medien ist für eine Gesellschaft zentral, ebenso der Zugang zu Informationen: Ein Gespräch mit Julia Jäkel, Chefin des Verlagshauses Gruner + Jahr, und Philipp Justus, Zentraleuropa-Chef von Google – über Inhalte im Digitalen, das neue Interesse an Magazinen und eine ambivalente, aber intensive Partnerschaft
Frau Jäkel, wie geht es Gruner + Jahr?
Jäkel: Wir sind verhältnismäßig gut durch das schwierige vergangene Jahr gekommen. Wir erleben eine Sehnsucht nach und eine Wertschätzung für Journalismus, die sich auch in unserer wirtschaftlichen Lage widerspiegeln.
Welche Rolle spielt das digitale Geschäft für Ihr Haus?
Jäkel: Mit 40 Prozent nimmt es einen substanziellen und seit Jahren deutlich wachsenden Anteil an unserem Gesamtgeschäft ein. Unsere journalistischen Marken haben führende Positionen in verschiedenen Segmenten von »Living« über »Women« bis zu »Wirtschaft« und »News« inne. Unser hausinternes Start-up »Applike«, ein App-Technologie-Unternehmen, entwickelt sich wirtschaftlich sehr erfreulich. »Chefkoch« ist die größte Foodplattform in Europa. Bei den digitalen Abo-Modellen machen wir viele Fortschritte mit Angeboten für den »stern«, »Capital« oder auch mit Apps zu Themen wie Schlaf, Abnehmen und Meditation.
Mit Publikationen wie »GEO« oder »stern« wurde Gruner + Jahr einst als Magazinhaus erfolgreich. Wie definieren Sie die Rolle Ihrer journalistischen Marken heute?
Jäkel: Der Kern unserer Arbeit, der Journalismus, ist derselbe geblieben. Er findet inzwischen eben häufig digital zu unseren Leserinnen und Lesern. Zugleich sind uns unsere gedruckten Magazine weiter sehr lieb. Print nimmt in der digitalen Welt eine wichtige Funktion ein: Es entspannt, es beruhigt, es konzentriert die Dinge. Ein entschleunigendes Magazin bekommt in einer sich beschleunigenden Welt einen besonderen Wert. Mit einem guten Mix aus Gedrucktem und Digitalem fühlen wir uns sehr wohl.
Herr Justus, wie blicken Sie auf die digitale Transformation der Verlage?
Justus: Mit Begeisterung und dem Wunsch nach enger Zusammenarbeit. Die Veränderung, die viele Verlage vorangetrieben haben, um sich auf die technologische Entwicklung und die neuen Bedürfnisse einzustellen, ist beeindruckend. Wir versuchen, die Medienhäuser in dieser Transformation mit hilfreichen Technologien zu unterstützen. Denn für uns ist es essenziell, dass wir den Menschen relevante Suchergebnisse zur Verfügung stellen – dazu gehören Nachrichten in allen Facetten.
Frau Jäkel, welche Bedeutung messen Sie Google aus der Sicht eines traditionellen Verlagshauses zu?
Jäkel: Google ist ein mächtiger Wettbewerber um Aufmerksamkeit, wir konkurrieren im Werbemarkt. Wir kritisieren, dass die Plattformen anderen, geringeren Regulierungen unterliegen als wir. Hier muss noch eine Menge passieren. Zugleich nutzen wir die Technologien der digitalen Plattformen, insbesondere von Google, um mehr Leserinnen und Leser zu erreichen. Google ist für uns bei aller Kritik auch ein wichtiger Partner, wenn es darum geht, Werbeerlöse zu generieren. Google wiederum nutzt unsere Medien zur Kommunikation von Werbebotschaften. In Summe sehe ich Google für die Medienbranche als einen Gatekeeper wie vermutlich für viele andere Branchen auch – wir kommen an Google nicht vorbei. Innerhalb dieser enormen Ambivalenz gelingt uns aber eine gute Partnerschaft.
Mit welchen Projekten verbinden Sie diese Partnerschaft?
Jäkel: Google hat mit seiner Technologie dazu beigetragen, unsere Geschäfte mit bezahltem Journalismus zu skalieren. Und ich erinnere mich gern an die Zusammenarbeit bei der »stern-Diskuthek«, einem jungen Debattenformat, das wir mit YouTube entwickelt haben. Seit Kurzem sind wir bei Google News Showcase dabei, einem zusätzlichen Absatzkanal für unsere Inhalte.
Justus: Was Julia beschreibt, gibt die Vielzahl der engen Verbindungen zwischen unseren Häusern wieder. Ein weiteres unserer Produkte erleichtert es Verlagen, digitale Abos abzuschließen. Gruner + Jahr war einer der Entwicklungspartner. Seit Jahren pflegen wir auch einen sehr engen Austausch, wenn es um die Technologie für die Werbevermarktung geht. Wir helfen beim Ansprechen von Werbekunden und stellen sicher, dass die Nutzerinnen und Nutzer hilfreiche Werbung sehen. Und mit der »stern-Diskuthek« ist ein tolles Online-Debattenformat entstanden, für das wir im Rahmen der Google News Initiative eine Anschubfinanzierung geleistet haben. Dadurch gab es zum Beispiel ein Streitgespräch zwischen Kevin Kühnert und Philipp Amthor auf YouTube – die redaktionelle Expertise des »stern«, zusammengebracht mit jüngeren Zuschauern auf YouTube.
Im vergangenen Jahr startete Google News Showcase, von dem Frau Jäkel sprach. Was hat es damit auf sich?
Justus: Verlage können nun innerhalb von Google News Informationskacheln mit ihren Inhalten bestücken. Die Aufmachung orientiert sich am Layout des jeweiligen Mediums, zum Beispiel des »stern«, der »FAZ« oder der »Zeit«, sodass Nutzer:innen die jeweilige Perspektive auf den ersten Blick erkennen können. Wir lizenzieren und bezahlen somit für die Nutzung der Inhalte und haben damit ein wirtschaftliches Modell gefunden, das für die Verlage und auch Google sinnvoll ist. So erhöhen wir die Sichtbarkeit von Qualitätsjournalismus.
Frau Jäkel, ist Reichweite der wichtigste Vorteil, der sich für Sie aus der Partnerschaft mit Google ergibt?
Jäkel: Reichweite und Auffindbarkeit. Außerdem können wir manche technische Entwicklung mit der Hilfe von Google beschleunigen. Aber es bleibt dabei: Unsere Beziehung ist ambivalent.
Wie nehmen Sie diese Ambivalenz wahr, Herr Justus?
Justus: Googles Mission hat sich seit 20 Jahren nicht verändert: Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Informationen der Welt zu organisieren und sie allen Menschen zugänglich zu machen. Nachrichten gehören zu diesen Informationen. Gleichzeitig ist die Beziehung zu Verlagen vielschichtig. Wir sind Partner und zugleich Wettbewerber um Aufmerksamkeit und in den Werbemärkten.
Jäkel: Absolut.
Justus: Solche Beziehungen und Konkurrenzverhältnisse gibt es zwischen vielen Unternehmen, auch zwischen Verlagen, die in der Vermarktung oder im Vertrieb kooperieren.
Jäkel: Damit beschreibst du eure Rolle aber sehr harmlos...
Justus: Wir bei Google sehen uns im Zusammenspiel von Medien und dem Vertrieb von redaktionellen Inhalten als Partner und Unterstützer, der Verlagen hilft, Leser:innen anzusprechen. So arbeiten wir zusammen, auch wenn wir durchaus unterschiedliche Perspektiven auf manche rechtlichen Rahmenbedingungen haben.
Jäkel: Wir erleben das auch gerade bei der Urheberrechtsfrage, bei der wir fundamentale Meinungsverschiedenheiten haben. Darüber reden wir aber nicht nur leise, sondern auch laut.
Justus: Das finde ich auch in Ordnung. Es gehört zu einer Partnerschaft, wie sie mit Gruner + Jahr in über zehn Jahren stetig gewachsen ist, dass man nicht immer derselben Meinung ist und trotzdem gemeinsam arbeitet. Grundsätzlich gilt: Uns geht es nur dann gut, wenn es unseren Partnern gut geht.
Frau Jäkel, es gibt Branchenstimmen, die zum Beispiel bei der Lizenzierung von Inhalten durch Google die redaktionelle Unabhängigkeit in Gefahr sehen. Ist die Warnung berechtigt?
Jäkel: Ich habe es noch nicht einmal erlebt, dass Google versucht hätte, Einfluss zu nehmen. Sobald ich diesen Eindruck hätte, würden wir nicht eine Sekunde weiter zusammenarbeiten. Ich habe mir in dieser Partnerschaft auch nie eine Grenze auferlegt, die mich hindern würde, mich kritisch zur Rolle digitaler Plattformen zu äußern. Nehmen wir die Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar: Die Ereignisse dieses Tages erinnern uns auch daran, dass die großen digitalen Plattformen eine erhebliche Rolle bei der Verschärfung vorhandener gesellschaftlicher Konflikte spielen. Sie müssen ihre Verantwortung annehmen. Da erlebe ich viele gute Bemühungen, es ist aber noch ein Weg zu gehen.
Justus: Wir nehmen die Kritik an und wollen unserer Verantwortung als Technologieunternehmen gerecht werden – sowohl im Dialog mit der Politik als auch mit der Öffentlichkeit und den Verlagen. Aber auch die Medienunternehmen haben hier eine Verantwortung, der sie gerecht werden müssen.
An welchem Punkt befindet sich Google im Kampf gegen Desinformation?
Justus: Ich sehe darin eine Daueraufgabe. Wir haben in den vergangenen Jahren schon sehr viel geschafft: Bei uns arbeiten inzwischen mehr als 20 000 Mitarbeiter:innen daran, Inhalte zu moderieren sowie rechtswidrige Inhalte und solche, die gegen unsere Richtlinien verstoßen, zu entfernen. Zugleich geben wir vertrauenswürdigen Inhalten mehr Sichtbarkeit. Und wir haben die Sichtbarkeit von Beiträgen reduziert, die zwar nicht rechtswidrig, aber auch nicht vertrauenswürdig sind.
Die Art, wie Menschen Medien lesen, sehen und hören, hat sich radikal verändert. Viele Medienmarken haben in der Vielfalt der Inhalte ihr Deutungsmonopol verloren. Ist das ein Problem für Sie, Frau Jäkel?
Jäkel: Nein. Es tut uns gut, mit anderen Stimmen und Perspektiven konfrontiert zu werden. Ich glaube, Medien werden in diesem Prozess besser, auch publizistisch. Wir müssen noch mehr unsere Standards klar machen, uns auf unsere handwerklichen Regeln besinnen und sie im Dialog mit Nutzerinnen und Lesern erklären.
Aber laufen Medien heute nicht Gefahr, im digitalen Strom der Inhalte unterzugehen?
Justus: Nein, nie war Journalismus so wichtig wie heute! Was sich sicherlich verändert hat, ist der Weg, wie Nutzer:innen zu Informationen kommen. Ich habe gerade erst eine Studie gelesen, nach der Menschen heute täglich umgerechnet bis zu zwei Kilometer auf ihrem Smartphone scrollen!
Jäkel: Wie gut für alle Augenärzte.
Justus: Zugleich ist der Wunsch der Menschen, verlässliche Informationen zu finden, viel höher als je zuvor. »ZDF heute« zum Beispiel betreibt auch einen Kanal auf YouTube. Dessen Nutzung ist seit Beginn des vergangenen Jahres um 400 Prozent gestiegen!
Jäkel: Ja, das erleben wir auch. Die aus meiner Sicht wichtigste Strategie ist gute journalistische Arbeit unter dem Dach einer guten journalistischen Marke. Wenn du die nicht hast, kann dir auch Google nicht viel helfen.
Mediennutzung im Wandel
Menschen konsumieren journalistische Arbeit immer häufiger online. Das kommt nicht von ungefähr: Laut ARD/ZDF-Onlinestudie nutzen jeden Tag 51 Millionen Menschen in Deutschland das Internet – das entspricht 72 Prozent der Bevölkerung. In der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen greifen sogar 97 Prozent täglich auf Online-Angebote zu. Die Intensität der Nutzung steigt an: Durchschnittlich 204 Minuten pro Tag verwenden über 30-Jährige in Deutschland der Erhebung zufolge das Internet. Bei den unter 30-Jährigen liegt dieser Wert sogar bei 388 Minuten. Eine große Rolle spielen inzwischen Videoportale wie YouTube, das laut Gesellschaft für Konsumforschung monatlich 47 Millionen Erwachsene in Deutschland erreicht.
Fotos: Antonia Gern (2), Google (2), Marcelo Hernandez (2)