»Neues Wachstumspotenzial für die deutsche Wirtschaft«
Künstliche Intelligenz kann der Wertschöpfung einen kräftigen Schub verpassen, ist Prof. Michael Hüther überzeugt. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) erklärt im Interview, warum das so ist und worauf es ankommt, damit Deutschland seine Potenziale optimal ausschöpft
Herr Professor Hüther, eine Studie von IW Consult im Auftrag von Google ist gerade zu dem Schluss gekommen, dass künstliche Intelligenz die Bruttowertschöpfung in Deutschland enorm erhöhen kann, um insgesamt 330 Milliarden Euro. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Die deutsche Wirtschaft ist nach wie vor industriebasiert. Der Industrieanteil an der Wertschöpfung ist mit 20 Prozent etwa doppelt so hoch wie in Frankreich und Großbritannien. Weitere 8 bis 9 Prozent erwirtschaften die Dienstleister der Industrie. Dieser Industriedienstleistungsverbund ist für Deutschland prägend. Hier können KI-Anwendungen besonders stark ausstrahlen und bekommen so eine hohe gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Das wäre weniger der Fall, wenn sie nur isoliert in Bereichen wie der Wirtschaftsprüfung angewandt würden.
Wieso wirkt KI im Industriedienstleistungsverbund so stark?
Schon Industrie 4.0 ist in Deutschland entstanden, wo Wertschöpfungsketten von Industrie und Dienstleistern begleitet werden durch vernetzte Maschinen und den Datenaustausch in Echtzeit. KI schafft nun neues Wachstumspotenzial. Anders gesagt: Was vor 50 Jahren mit der Automatisierung begann, hat in den letzten zwei Jahrzehnten seine Ausprägung über die Digitalisierung bekommen, das heißt über Echtzeit‑Informationssteuerung in den Wertschöpfungsketten. Mit KI erreichen wir jetzt die dritte Stufe, aus der sich neue Perspektiven ableiten: Über Mustererkennungssysteme, beispielsweise Sprach- oder Bilderkennung, werden wir viele Prozesse weiter automatisieren können. Diese Nutzung von KI muss aber auch bei mindestens 50 Prozent der Unternehmen geschehen, damit der eindrucksvolle Betrag von 330 Milliarden Euro zusätzlicher Wertschöpfung auch wirklich ausgeschöpft werden kann. Diese Größenordnung ist nur wegen des Industriedienstleistungsverbundes denkbar.
KI hilft also sowohl der Industrie als auch dem Dienstleistungssektor?
Die industrielle Wertschöpfung ist bei uns deshalb noch so erfolgreich, weil man mit einer Maschine kein isoliertes Industrieprodukt kauft. Im Grunde erwirbt man ein lebenslanges Servicepaket um diese Maschine, die heute Daten in Echtzeit austauscht. In so einem Umfeld sind generative KI-Anwendungen hochattraktiv, weil sie Prozesse beschleunigen oder frühzeitiger auf notwendige Anpassungen hinweisen. Ein einfaches Beispiel für die vielfältige Wirkung von KI sind Aufzüge: Sie werden nicht nur automatisiert gebaut und automatisiert gesteuert. Wenn sehr viele Daten über die Nutzung von Aufzügen vorliegen, können auch die Wartungsprozesse dank KI automatisiert werden.
»Die KI schließt an den langen Erfolgspfad der deutschen Wirtschaft an und verlängert diesen«
Prof. Dr. Michael Hüther
Wie wichtig ist es mit Blick auf den internationalen Wettbewerb, dass Deutschland die Potenziale von KI nutzt?
Es ist aus meiner Sicht unvermeidbar, ja zwingend, dass wir das tun. Die KI schließt an den langen Erfolgspfad der deutschen Wirtschaft an und verlängert diesen. Wir nutzen die Potenziale bereits an vielen Stellen: Im verarbeitenden Gewerbe wie auch im Dienstleistungssektor wird KI – vor allem in Großunternehmen – eingesetzt. Aufholbedarf gibt es aber noch bei den kleinen und mittleren Unternehmen, die den Großteil der deutschen Wirtschaftsleistung ausmachen.
Wie nutzen deutsche Unternehmen konkret die Potenziale der KI?
Ein Beispiel sind die Fahrstühle, die ich gerade genannt habe. Aber das Prinzip gilt insgesamt im Maschinen- und Anlagenbau. Der Hersteller lernt die Maschine erst aus der Nutzung durch die Kunden richtig gut kennen. Anhand dieser Daten lassen sich im Zusammenspiel mit KI andere Analysemöglichkeiten für die passgenaue Weiterentwicklung dieser Maschinen mobilisieren. Auch die Betreiber der Maschinen profitieren natürlich.
Inwiefern?
Am Ende geht es immer darum, dass wir weniger Ressourcen und weniger Energie benötigen. In der Produktionsstraße einer Fabrik mag es so aussehen, als würde jede Maschine immer Energie ziehen. Das stimmt aber nicht, es gibt verschiedene Phasen. Wer diese auf Basis von KI und Ablaufdaten steuern und optimieren kann, profitiert stark. Solche Vorteile ziehen sich durch praktisch alle industriellen Wertschöpfungen in Deutschland. Ein weiteres Beispiel ist das autonome Fahren, das auch auf KI basiert. Rund ein Drittel der Patente dazu stammen nach IW-Berechnungen auf Basis der Datenbank Patentscope von deutschen Unternehmen. Bei Dienstleistern wiederum haben wir es häufiger mit textbasierten Szenarien zu tun, beispielsweise bei Wirtschaftsprüfern oder Gutachten im juristischen Bereich. Erste Studien aus den USA zeigen, dass generative KI in solchen Fällen 30 Prozent Zeit einsparen kann.
330 Mrd. Euro
beträgt der mögliche Anstieg der Bruttowertschöpfung in Deutschland, der durch den Einsatz generativer KI erreicht werden kann. Damit diese Summe zustande kommen kann, müssen mindestens 50 Prozent der Unternehmen hierzulande KI nutzen.
Quelle: Studie „Der digitale Faktor“ von IW Consult im Auftrag von Google
100 Stunden
Arbeit pro Jahr könnte der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer durch generative KI einsparen.
Quelle: Studie „Der digitale Faktor“ von IW Consult im Auftrag von Google
Auch Ihre Studie zeigt Produktivitätsgewinne auf: Demnach könnte der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer durch generative KI 100 Arbeitsstunden im Jahr einsparen. Ist das die Lösung für den Fachkräftemangel?
100 Stunden sind tatsächlich eine interessante Größe, auch wenn es erst mal »nur« zwei Stunden pro Woche sind. Aber es könnte der deutschen Volkswirtschaft enorm helfen, wenn wir die eingesparten 100 Stunden über alle Erwerbstätigen hinweg konsequent zur Arbeit nutzen. Denn diese Menge würde in etwa den alterungsbedingten Verlust an Arbeitsvolumen bis 2030 in Höhe von 4,2 Milliarden Arbeitsstunden kompensieren – also die demografische Entwicklung, die hinter dem Fachkräftemangel steht. Die Herausforderung liegt allerdings darin, das auch zuzulassen.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen den Mut haben, diese zeitliche Einsparung produktiv zu nutzen. Dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen, vor allem die regulatorischen. Lassen Sie es mich an einem Beispiel deutlich machen. Trotz der stetigen digitalen Transformation sind in allen Industrieländern die Fortschritte in der Arbeitsproduktivität rückläufig. Sie lagen vor drei Jahrzehnten bei 3 Prozent, dann bei 2 Prozent, dann bei 1,5 Prozent. Die Digitalisierung kommt also nicht voll in der Arbeitsproduktivität an. Dafür gibt es viele Erklärungen, beispielsweise hohe Kosten für Compliance und Dokumentation. Deshalb müssen wir aufpassen, dass die Potenziale der KI nicht durch überbordende Bürokratie oder Dokumentationspflichten gebremst werden.
Worauf kommt es noch an, damit das große Potenzial von KI ausgeschöpft wird?
Entscheidend für die Mobilisierung der Wertschöpfungseffekte von KI ist letztlich das Datenrecht. Die Frage ist, ob wir entpersonalisierte Daten freier stellen können. Der Grundsatz der Datensparsamkeit ist für die Zukunft sicherlich nicht zielführend. Der zentrale Aspekt der künftigen digitalen Welt ist Mustererkennung, die wiederum auf Daten basiert. Sie schafft viele neue Optionen, etwa automatisierte Antworten und lernende Systeme. Es geht um eine Intelligenz, die sich um den Menschen und seine Wahrnehmungs-, Analyse- und Bewertungsfähigkeit herum baut. Sie bringt uns, sehr vereinfacht gesagt, auf einen höheren Wirkungsgrad. Deshalb ist der Zugang zu Daten so wichtig. Leider wird er häufig unnötig verhindert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die deutsche Heizkostenverordnung von 2021 hat im Grunde rechtlich verbaut, dass die Menschen taggenaue Verbrauchsinformationen erhalten, so wie Banking-Apps ihre Finanztransaktionen anzeigen. Laut der europäischen Energieeffizienzrichtlinie sollten diese Daten »mindestens alle zwei Monate« verfügbar gemacht werden. In der deutschen rechtlichen Fassung wurde daraus »monatlich«, aber das »mindestens« gestrichen. So wurde eine an sich vernünftige Regulierung im Grunde wertlos, weil keine Auswertung in Echtzeit möglich ist. Verbrauchern und KI-Systemen fehlen so wertvolle Daten, die schnell und günstig zum Energiesparen beitragen könnten.
Abgesehen vom Datenrecht: Welche Rolle sollte der Gesetzgeber noch mit Blick auf KI spielen?
Regulierung muss auch die Angst vieler Menschen ernst nehmen, dass sie quasi überrollt werden von einem Automatismus, der Entscheidungen trifft. Das kann nicht sein. Stattdessen geht es um Arbeitsteilung: KI hilft uns, aber die Verantwortung muss zwingend beim Menschen verbleiben, der weiterhin Ermessensentscheidungen treffen muss. Auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz von 2020 geht in diese Richtung. KI muss diskriminierungsfrei sein. Und KI muss transparent sein. Wenn es kritisch wird, müssen Algorithmen nachvollziehbar sein.
Was raten Sie Unternehmen, um die Potenziale der KI bestmöglich für sich zu nutzen?
Ich glaube, sie müssen mit der Sorge um ihre Daten entspannter umgehen. Letztlich gewinnen wir alle, wenn wir über gemeinsame Datenstandards unsere geschäftsbezogenen Informationen austauschfähig machen.
Braucht KI Zusammenarbeit und Austausch, damit sie Erfolg bringt?
Das kann ein entscheidender Faktor sein. Wir müssen im Grunde noch viel mehr in Netzwerken denken. Denn je mehr Daten unterschiedlicher Art eine KI als Grundlage bekommt, desto mehr Analysemöglichkeiten ergeben sich daraus. Im Idealfall bilden Daten eine Wertschöpfungskette insgesamt ab und brechen nicht an einer Stelle ab.
Welche Rolle kann der Staat in dieser Hinsicht spielen?
Der Staat ist nicht nur Regulator, sondern auch Dienstleister. Deshalb sollte er KI auch selbst in seinem Verwaltungshandeln nutzen. Es hilft wenig, wenn Unternehmen KI-Lösungen verwenden, die beim Staat nicht anschlussfähig sind. Zudem kann er große Datenbestände mobilisieren, etwa solche zum Arbeitsmarkt. Aus ihnen lassen sich KI-gestützt ganz neue Erkenntnisse gewinnen, die am Ende auch der Wirtschaft helfen.
Illustration: LINN FRITZ/POCKO; Fotos: Felix Brüggemann