Nicht mehr einzeln handeln
»Uwe«, sagt Marcus Diekmann bei einem Feierabendbier Ende Februar 2020 zu seinem besten Freund, »das wird das schwierigste Jahr meiner Karriere.« Diekmann führt die Geschäfte des Fahrradhändlers Rose Bikes mit Stammsitz in Bocholt. Er ist bei dem Treffen beunruhigt, weil sich die schlechten Nachrichten häufen. Seit Ende Januar stehen in China Werke still, die normalerweise dringend benötigte Teile und Produkte für Rose Bikes herstellen. Erstmals breitet sich das Coronavirus auch in Europa aus. Diekmann befürchtet, dass er zum bevorstehenden Beginn der Fahrradsaison nicht genügend Ware im Onlineshop und in den Geschäften zur Verfügung haben wird. Er hat Sorge, dass es auch in Deutschland zu einem Lockdown kommen könnte, und beschließt zu handeln.
In Krisen Vollgas geben
»In Krisen müssen wir Vollgas geben«, appelliert Diekmann an seine rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und verstärkt den Fokus auf soziale Medien und den Onlineshop, der ohnehin bereits 80 Prozent zum Umsatz des 113 Jahre alten Unternehmens beiträgt. Denn er hat noch viele Teile auf Lager, für die er nicht auf Lieferungen aus Fernost angewiesen ist. »Wir müssen es den Kundinnen und Kunden so einfach wie möglich machen, zum passgenauen Produkt zu kommen.« Marcus Diekmann stieg 2019 als Digitalchef bei Rose ein, ehe er 2020 Geschäftsführer wurde. Rose nutzte die Krise und investierte in Anzeigen bei Google und in den sozialen Medien, damit die Produkte des Unternehmens online einfacher und häufiger gefunden werden. Weil andere Firmen während der Corona-Krise ihre Marketingbudgets kürzen, profitiert das Unternehmen von gesunkenen Anzeigenpreisen.
Zugleich schafft Diekmann ein neues Beratungsformat: Während des Lockdowns lassen sich interessierte Kundinnen und Kunden ihre Wunschfahrräder per Smartphone-Videochat zeigen und erklären – nach Terminvereinbarung und bequem von zu Hause. »Auf zehn Videoberatungen kommen sechs verkaufte Räder«, bilanziert Diekmann die hohe Erfolgsquote. Doch nicht nur deshalb sieht er im Videoverkauf ein Zukunftsmodell, das er weiter ausbauen will: »Damit lassen sich auch die Arbeitszeiten unserer Angestellten mit Kindern flexibilisieren, etwa indem sie abends Kunden beraten.« Aber Diekmann handelte auch außerhalb des eigenen Unternehmens. Er versteht sich als Netzwerker und stört sich schon immer daran, dass viele Einzelhändler ihr Geschäft wörtlich nehmen: Sie handeln einzeln. Diekmann ist da anders. »Bevor ich etwas Neues einführe, zum Beispiel eine Umstellung in der IT-Landschaft, rufe ich zehn Händler aus möglichst unterschiedlichen Branchen an und frage sie nach den größten Fehlern, die ihnen bei einem ähnlichen Projekt unterlaufen sind«, erklärt er. Getreu dieser Philosophie und um zu verhindern, dass der Pessimismus überhandnimmt, gründet er zum Start des Lockdowns die Initiative »Händler helfen Händlern« mit. Die zugehörige Gruppe im Business-Netzwerk LinkedIn hat inzwischen mehr als 2700 Mitglieder, die dort Herausforderungen diskutieren, Ideen weitergeben und Anregungen teilen.
Bevor ich etwas Neues einführe, rufe ich zehn Händler an und frage sie nach den größten Fehlern, die ihnen bei einem ähnlichen Projekt unterlaufen sind
Marcus Diekmann Rose Bikes
»Der Austausch ist extrem hilfreich«, sagt Anna Weber, Geschäftsführerin der Franchise-Fachmarktkette Baby One. Sie ist von Beginn an dabei, als die Händler zum Beispiel über ihren Umgang mit Corona-spezifischen Themen wie Kurzarbeit oder Flächenbegrenzungen sprechen. Zu vielen Kolleginnen und Kollegen nimmt Weber direkt Kontakt auf und gewinnt unterschiedlichste Anregungen. »Unter anderem habe ich viel über regionale Optionen in den Bereichen Versand und Logistik gelernt«, sagt die Chefin der Franchise-Kette. Sie möchte ihr Onlinegeschäft ausbauen und bei Bestellungen nicht aus einem Zentrallager, sondern aus den Filialen verschicken.
Händler helfen Händlern
Auch Jost Wiebelhaus, der seit 19 Jahren den »Frankfurter Laufshop« in der Mainmetropole betreibt, nutzt »Händler helfen Händlern« häufig. Über die Plattform teilt er unter anderem die positiven Erfahrungen, die er seit dem Frühjahr mit digitalen Werkzeugen macht: Mit großem Erfolg bietet er die Laufstilanalyse zur Auswahl des passenden Schuhs während der Schließung per WhatsApp an. Außerdem können seine Kunden nun über seine Website Beratungstermine im Geschäft vereinbaren. »Dagegen habe ich mich früher immer gesperrt, jetzt möchte ich das keinesfalls mehr missen«, sagt Wiebelhaus. Er selbst profitiert besonders von den »Digital-Talks« genannten Expertengesprächen, die »Händler helfen Händlern« seit April virtuell veranstaltet. Neben vielen Unternehmern waren dort Politiker wie Gesundheitsminister Jens Spahn und FDP-Chef Christian Lindner sowie Vertreter von Verbänden zu Gast. »Ein, zwei Ideen kann ich aus jedem Talk mitnehmen«, sagt Wiebelhaus, der an einem Gespräch sogar selbst teilnahm und mit Ralf Kleber, dem Chef von Amazon Deutschland, über die Krise diskutierte.
Offline und online wettbewerbsfähig sein
Mitinitiator Marcus Diekmann engagiert sich von Anfang an intensiv bei »Händler helfen Händlern«. In den ersten Wochen telefoniert er täglich und häufig bis 1 Uhr nachts mit anderen Unternehmerinnen und Unternehmern. Viele beschäftigten sich nun erstmals mit E-Commerce und hören auf seinen Rat. »Du darfst dich nicht nur mit anderen Offlinegeschäften vergleichen, du musst auch mit dem Onlinehandel wettbewerbsfähig sein«, lautet eine seiner wichtigsten Empfehlungen. Diekmann spricht an der Stelle nicht nur die Preisgestaltung an. Er rät auch dazu, den Kundinnen und Kunden im stationären Geschäft die gleichen Zahlungsmöglichkeiten und das gleiche Umtauschrecht wie in Onlineshops anzubieten. Und die gleiche Warenvielfalt. »Die stationären Händler müssen sich in Einkaufsverbänden organisieren, damit sie jedes gewünschte Produkt schnell im Geschäft oder online verfügbar haben«, sagt Diekmann. Er verweist auf das Vorbild der Apotheken in Deutschland: Vormittags bestellte Medikamente gehen dort nachmittags über den Tresen.
Digitalprofi Diekmann erlebt zu Beginn der Corona-Zeit viel Veränderungsbereitschaft. Nun sieht er immer mehr Einzelhändler, die mit der Wiedereröffnung ihrer Geschäfte in den alten Trott fallen. Die Entwicklung beschäftigt ihn. »Um zukunftsfähig zu sein, müssen sie aber einen Kulturwandel vollziehen«, sagt Diekmann. »Sie müssen leistungsorientierter werden, flexibler, effizienter, also schlicht: digitaler.«
Für Diekmann selbst und Rose Bikes verlief das Jahr 2020 so schwierig wie im Februar befürchtet, jedoch keinesfalls erfolglos. Das Unternehmen profitiert einerseits von einer deutschlandweit starken Nachfrage nach Fahrrädern, andererseits von der rechtzeitig etablierten »Online First«-Strategie. »Durch die Ladenschließungen und die Lieferausfälle gingen uns sieben Millionen Euro verloren«, legt Marcus Diekmann die Zahlen auf den Tisch. »Dafür haben wir online zehn Millionen Euro zusätzlichen Umsatz gemacht.« Die chinesischen Lieferanten nahmen relativ schnell wieder die Produktion auf. Zusätzlich hat der Bocholter Netzwerker gerade Kooperationen mit prominenten Sportlerinnen und Sportlern sowie großen Einzelhändlern wie dem Modehaus Engelhorn Mannheim auf den Weg gebracht. Das vor der Corona-Krise formulierte Ziel für Rose Bikes lag bei 125 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2020. »Wir sind voll auf Kurs«, sagt der Geschäftsführer.
Händler helfen Händlern
Netzwerk, Expertengespräche, Ideenlabor und Verkaufsplattform: Die inmitten des Corona-Lockdowns gestartete Initiative »Händler helfen Händlern« wird ihrem Namen auf mehrere Arten gerecht. Im Zentrum steht eine Gruppe im Business-Netzwerk LinkedIn, die mehr als 2700 Mitglieder miteinander verbindet. Seit April veranstaltet die Initiative regelmäßig »Digital-Talks« – anfangs zum Umgang mit Corona, später auch zu Themen wie »Handel meets Politik«, »Handel meets Social Media« oder »Handel meets Women in Business«. Alle bisherigen Gespräche sind online abrufbar.
Um gestärkt in die Zeit nach Corona zu gehen, veranstaltete die Initiative gemeinsam mit dem Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) den »RetailHack«. In diesem Ideenwettbewerb erarbeiteten Händler, Hersteller und Dienstleister Konzepte für einen zukunftsfähigen Einzelhandel, etwa zur Standortbelebung, zum regionalen Einsatz von E-Commerce oder zu neuen Qualifizierungsformen.
Zudem entwickelte »Händler helfen Händlern« gemeinsam mit dem Softwarehersteller Shopware den lokalen Online-Marktplatz »Downtown«. Dort können kleine und mittelgroße Händler kostenlos und mit geringem Aufwand verkaufen.
Text: Christoph Henn, Fotos: Sima Dehgani