»Rangnick sagte: Ich will alles wissen!«
Wie die Datenauswertung in den Fußball fand: Ein Gespräch mit Daniel Memmert von der Sporthochschule Köln, einem der Pioniere dieses Fachgebiets. Er beschreibt, wie sich Vereine dank guter Analysen verbessern und warum das Geheimnis des Spiels dennoch erhalten bleibt
Herr Memmert, Sie waren einer der ersten großen Datensammler im Fußball. Wie kam es zu dieser Spezialisierung?
Die Begeisterung für Fußball war immer schon da, ich habe auch die Trainer-B-Lizenz. Dann kam im Jahr 2000 Hansi Flick auf mich zu. Er war damals Trainer bei der TSG Hoffenheim, die in der dritten Liga spielte. Wir haben dann für ein paar Mark Diktiergeräte gekauft und den Trainern in die Hand gedrückt. Der Co-Trainer hat Dinge wie »Angriff positiv« oder »Abwehr negativ« eingesprochen, also: Beispiele für positive und negative Aktionen. Das haben wir dann per Computer mit den Videoaufnahmen synchronisiert und Sequenzen zusammengeschnitten. Flicks Nachfolger war Ralf Rangnick. Der kam gerade von Schalke und sagte: Ich kenne die Regionalliga nicht, aber ich will alles wissen! Und verlangte 80-seitige Powerpoint-Präsentationen über die SV Elversberg oder Darmstadt 98.
Sie haben damals noch mit VHS-Kassetten gearbeitet. Die technische Entwicklung hat Ihnen dann Tür und Tor geöffnet.
Ein Meilenstein für mich war das Treffen mit dem Informatiker Jürgen Perl auf einer Konferenz, kurz vor der WM 2006 in Deutschland. Er hatte neuartige Algorithmen für Tennisspieler entwickelt. Ich sprach ihn in der Kaffeepause an und fragte: Wenn wir im Fußball die Spieler als Datenpunkte hätten – könnten Sie da mit Ihren Algorithmen Muster herauserkennen? Und er sagte: Das ist ja eine unfassbare Idee! Dann haben wir händeringend einen Datensatz gesucht, mit dem wir das ausprobieren können. Das erste Spiel, das zur Verfügung stand, war das WM-Finale, Italien gegen Frankreich. Für ein Projekt der DFL im Jahr 2015 mit dem Namen »Positionsdaten im Profifußball« durften wir dann 200 Datensätze auf der Basis von 50 Bundesligaspielen auswerten. Ich würde sagen: Damit begann im Fußball die Ära von Big Data.
Welches sind denn die wichtigsten Parameter? Welche Daten werden da gesammelt?
Es hat sich gezeigt, dass Werte wie der Ballbesitz einer Mannschaft oder die Summe der gelaufenen Kilometer nicht aussagekräftig sind, um zu sehen, wer ein Spiel gewinnt. Meines Wissens gibt es zurzeit drei wichtige Indikatoren, die das Zeug haben aufzuklären: Raumkontrolle, Pressing und Passeffektivität, wir haben gerade darüber ein Buch geschrieben. Für die Messung der Raumkontrolle analysieren wir, welchen Raum ein Spieler in jedem Moment des Spiels vor allen anderen kontrollieren kann. Solche Werte sind natürlich im Strafraum besonders aussagekräftig. Das Pressing beschreibt, wie schnell die Fußballer einen Gegner anlaufen, wenn sie den Ball gerade an diesen verloren haben. Diese Daten sind bei vielen Vereinen zurzeit sehr begehrt. Oder Passeffektivität: Es geht darum, wie viele Gegner mit einem Pass aus dem Spiel genommen werden. Für all diese Werte braucht man natürlich die Positionspunkte von Spieler und Ball über die gesamte Spieldauer hinweg. Da fallen riesige Datenmengen an.
Und wer bei den drei Indikatoren am besten abschneidet, gewinnt demnach?
Wir müssen da bescheiden bleiben. Wir sprechen hier von einer Steigerung der Vorhersagewahrscheinlichkeit von 7 bis 8 Prozent, wie ein Fußballspiel ausgeht. Wobei das im Fußball schon recht viel ist.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo diese Werte den Erfolg untermauern?
Beim FC Bayern im Jahr 2019. Da haben sich die Pressingwerte der gesamten Mannschaft erhöht, nachdem Hansi Flick Cheftrainer wurde.
Wofür werden diese Daten nun eingesetzt? Sagt zum Beispiel ein Trainer zu einem Spieler: Du musst im Spielaufbau anderthalb Meter weiter vorne stehen, um mehr Raumkontrolle zu haben?
Aus meiner Sicht wäre folgender Ablauf perfekt: Der Spielanalyst hat eine Idee, wie er gegen den nächsten Gegner spielen will, und teilt das dem Trainer am Montag mit. Es ist übrigens kein Zufall, dass Trainer wie Klopp, Tuchel oder Nagelsmann ihre Spielanalysten mitnehmen bei einem Vereinswechsel, für sie ist das der wichtigste Transfer. Auf der Spielanalyse aufbauend, überlegt sich der Co-Trainer Spielformen. Die werden dann für das Samstagsspiel am Dienstag und Mittwoch trainiert: Wie will ich gegen den Ball spielen, wie kann ich gegen diesen Gegner Situationen schaffen, in denen die Stärken meiner Mannschaft zum Tragen kommen?
Skeptiker sagen, Sie förderten mit den Analysen nur die Optimierung von Athleten, bei Big Data gehe es um nichts anderes als um Big Money.
Unsere Analysen sind nur ein kleiner Teil. Man darf in dem ganzen Datenwust nicht vergessen: Es bleibt immer wieder noch etwas Geheimnisvolles an Spielern haften. Wer auf dem Papier die besten Werte hat, muss nicht derjenige sein, der im neuen Verein auch am besten funktioniert. Robert Lewandowski ist für mich ein Beispiel. Er ist natürlich ein begnadeter Spieler. Aber sein Management war auch schlau. Ich glaube nicht, dass er bei Real Madrid so performen würde wie bei den Bayern.
Was wird in Zukunft noch möglich sein dank der Datenschätze?
Positionsdaten über alle europäischen Ligen hinweg – das wird in vier, fünf Jahren ein Meilenstein für das Scouting sein. Wenn wir die Angaben haben, können wir innerhalb von wenigen Minuten eine Liste erstellen, in der wir sehen, welcher Linksverteidiger oder welcher Sechser die besten Werte hat. Dazu brauchen wir dann auch mehr Analysten, die wir in Köln bereits in unserem Masterstudiengang »Spielanalyse« oder im Zertifikatsstudiengang »Spielanalyse-Team Köln« in Zusammenarbeit mit dem DFB ausbilden. Computer programmieren schließlich nicht, sie denken sich auch keine Indikatoren aus oder interpretieren Ergebnisse. Das alles tun Menschen. Und Informatiker mit gutem Fußballverständnis können Sie zurzeit noch an einer Hand abzählen.
Foto: Benjamin Lau, Illustration: Anton Hallmann/Sepia