Solidarität in der Krise
Wegen Corona entwickelten viele Einzelhändler digitale Rezepte für den Ausnahmezustand. Manche profitieren davon nun dauerhaft - zum Beispiel die Wartners mit ihren Modegeschäften
Seit Anette und Thomas Wartner ihre drei Modegeschäfte nahe der Schweizer Grenze wieder aufsperren dürfen, machen sie das eine halbe Stunde später als noch vor Beginn der Corona-Krise: Die Türen öffnen sich erst um 10 Uhr. Diese Verzögerung hat allerdings nichts mit Sparmaßnahmen zu tun, denn die Mitarbeiter kommen genauso wie früher um 9 Uhr. Sie nutzen die gewonnene Zeit, um neu angelieferte Accessoires, Hemden, Hosen oder Kleider mit Blick auf die digitalen Kanäle zu analysieren: Welches Stück können sie welchen Kunden gezielt über WhatsApp vorstellen? Welches Teil sollte lieber allen Followern auf Instagram oder Facebook gezeigt werden? Wo ergibt ein Foto Sinn, wann ein Video? Wie wird ein Kleidungsstück präsentiert? Von welchem Teammitglied?
Düstere Branchenprognosen
Als die Wartners am 18. März 2020 mit ihren engsten Mitarbeitern zur Strategiesitzung zusammenkamen, einigten sie sich auf ein neues Motto: »Wir müssen noch digitaler werden.« Es war der Tag, als alle drei Geschäfte schlossen, die das Ehepaar unter dem Namen »Stulz – Mode : Genuss : Leben« in Waldshut-Tiengen betreibt. Die Umsätze der sogenannten Concept-Stores waren schon Tage vorher eingebrochen, als die Grenzen zur Schweiz abgeriegelt wurden – Kunden aus dem Nachbarland sorgen bei »Stulz« und vielen anderen Händlern des historischen Ortes am Rande des Schwarzwalds für bis zu 50 Prozent des Umsatzes. Am 18. März dann der Absturz auf null Prozent Umsatz als Folge von Ausgangssperre und Zwangsschließung von Geschäften auch in Deutschland. »Es ist unfassbar, wenn du auf einmal nicht mehr tun darfst, was du so gern machst«, erinnert sich Anette Wartner an das Gefühl der Ohnmacht. Seit 2008 betreiben sie und ihr Mann das vor mehr als 90 Jahren gegründete Traditionsunternehmen, sie beschäftigen neun Mitarbeiter und statten mehr als 6000 Stammkunden mit Mode aus.
Die Ohnmacht überwältigte damals zeitgleich die gesamte Republik: Mehr als 3,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt im Einzelhandel. Allein 60 000 Bekleidungs- und Schuhgeschäfte schlossen von einem auf den anderen Tag ihre Türen. Inhaber wälzten die Frage, wie sie ohne Einnahmen ihre Mieten und die meist kurz vorher eingetroffene Frühjahrsware bezahlen können. Viele meldeten Kurzarbeit an, auch die Angestellten der Stulz-Concept-Stores waren betroffen. Obwohl der Lockdown erst Mitte des Monats erfolgte, fielen die März-Umsätze des stationären Modehandels in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr laut einer Umfrage der Fachzeitschrift TextilWirtschaft um 60 Prozent niedriger aus. Wie rasant Covid-19 die Branche veränderte, verdeutlicht auch ein Blick auf die Titelblätter des wöchentlich erscheinenden Magazins: Noch am 12. März 2020 war die »Corona-Angst« eine Randnotiz auf der Titelseite. Vier Wochen später las sich die Schlagzeile auf der ersten Seite geradezu apokalyptisch: »Viele werden es schaffen. Viele aber nicht.«
Für Anette und Thomas Wartner stand von Anfang an fest, dass sie mit »Stulz« zu denen gehören wollten, die es schaffen – mit unternehmerischer Energie und digitaler Hilfe. Wie viele andere Einzelhändler fingen die beiden nicht bei null an. Das Geschäft unterhält eine Website, auf den Kanälen in den sozialen Medien postet »Stulz« seit Längerem Beiträge, im Herbst wurde sogar die eigene App gelauncht, in der Kunden unter anderem neue Artikel ansehen und reservieren können. Doch so weitreichend das Engagement bislang schon war, es formte sich »nur« zu einem digitalen Schaufenster. Verkauft wurde ausschließlich in den Stulz-Concept-Stores.
Eine erste digitale Strategie
Dabei blieb es in der Krise zunächst auch. »Wir wollten unsere Kunden in dieser schwierigen Zeit nicht sofort mit Verkaufswerbung bombardieren«, beschreibt Thomas Wartner seine digitale Corona-Strategie, die aus mehreren Phasen bestand. In der ersten Phase informierten die Inhaber auf ihrer Website mit dem Hashtag #NichtUnterkriegenLassen über die Schließung der Geschäfte, über den Lieferservice und telefonische und digitale Erreichbarkeit. In den sozialen Medien zeigten die Wartners Gesicht und warben um Solidarität für Kollegen: Statt eigene Produkte zu bewerben, posteten sie auf Instagram und Facebook Fotos und Videos vom Einkauf auf dem Markt und in der örtlichen Konditorei oder schwärmten vom To-go-Burger eines Waldshuter Restaurants. Dabei verwendeten sie den Hashtag #buylocal – ein Motto, das allein bei Instagram bis April rund fünf Millionen Mal benutzt wurde, um regionale Einzelhändler, Gastronomen und Handwerker zu unterstützen.
Für uns war Corona der Auslöser, viel stärker als vorher auf eine personalisierte Digitalisierung zu setzen.
Thomas Wartner Modehändler
Nach etwa einer Woche gingen die Waldshuter Modehändler die zweite Phase ihrer Digitalstrategie an: Sie widmeten sich wieder dem Umsatz. Tag für Tag stellten Mitglieder des Stulz-Teams je drei komplette Outfits bei Instagram und Facebook vor. Zugleich kommunizierten sie mit Stammkunden über WhatsApp und füllten den ursprünglich zur Reservierung von Lieblingsteilen gedachten Bereich der App mit immer mehr Fotos ihres Sortiments. Die Bestellungen, die auf diesem Weg ausgelöst wurden, lieferten Mitglieder des Stulz-Teams wann immer möglich persönlich aus. So kamen während der Zwangsschließung immerhin mehrere Tausend Euro Umsatz zusammen. Weiterer Umsatz entstand durch den Verkauf von Gutscheinen in der App. »An der Aktion beteiligten sich sogar Leute, die nie vorher in unseren Läden eingekauft hatten«, erzählt Anette Wartner. Sie freut sich noch immer über die Solidarität in Zeiten der Krise.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Einnahmen, die das Paar während der Zwangsschließung mithilfe seiner digitalen Kanäle erwirtschaftete, kompensierten nicht annähernd die entgangenen Verkäufe in den Geschäften. Wie sollten sie auch, wenn selbst die großen Online-Modehändler im März und April angesichts verunsicherter Verbraucher deutliche Umsatzrückgänge meldeten. Auf rund 85 Prozent beziffern die Wartners die Einbußen zwischen der Schließung im März und der Wiedereröffnung Ende April. Ihre Mitarbeiter konnten sie nur mithilfe des Kurzarbeitergelds bezahlen. Mit den verschiedenen Modelabels verhandelten sie über Zahlungsaufschub und Verkleinerungen der noch nicht gelieferten Aufträge für Sommer und Herbst, damit sie sich auf den Verkauf des Bestandes konzentrieren können. Gelohnt hat sich die »Digital Only«-Phase nach Angaben der Inhaber dennoch. Sie half ihnen bei der Etablierung einer Strategie, die online und offline besser miteinander verbindet, erklärt Thomas Wartner: »Für uns war der Einbruch der Auslöser, viel stärker als vorher auf eine personalisierte Digitalisierung zu setzen.« Über die App, die bereits 600 Nutzer hat, kann man inzwischen einkaufen. Der aus der Not geborene Lieferservice mit Beratungsoption (»Stulz to go«) hat sich als festes Serviceangebot etabliert. Und anstatt sich mit den großen Modeplattformen in einen überregionalen Online-Wettbewerb um anonyme Kunden zu stürzen, nutzen die Unternehmer die verschiedenen digitalen Kanäle als »Live-Touchpoints«: Sie sprechen Modebegeisterte aus der Region direkt und mit möglichst relevanten Informationen an. »Der eine Stammkunde bekommt beispielsweise von seiner Lieblingsverkäuferin über WhatsApp ein Foto der neu eingetroffenen Sommerschuhe, während wir über Social Media eine größere Gruppe über neue Produkte für die nächste Saison abstimmen lassen können«, sagt Anette Wartner. Auf diese Weise stärke sich die Bindung zu den Kunden und damit das Kerngeschäft, ist Thomas Wartner überzeugt. Die Zeit zwischen 9 Uhr und 10 Uhr sei dazu jeden Tag gut investiert.
DIGITALE WERKZEUGE
Hilfreiche Informationen des Mittelstand 4.0 Kompetenzzentrum Handel zur sinnvollen Nutzung von Verkaufs- und Social- Media-Plattformen.
Expertenwissen und Fallbeispiele für kleine und mittlere Unternehmen auf der Plattform des Bundeswirtschaftsministeriums.
Mit »Google My Business« erreichen Unternehmer kostenlos Kunden durch die Google-Suche und Google Maps.
Wie Unternehmen mit digitalen Mitteln wachsen zeigt die Website »Think with Google«.
Mit der Initiative »go-digital« begleitet das Bundeswirtschaftsministerium den Mittelstand bei der Digitalisierung.
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Fotos: Thomas Eugster (6), Stulz-Mode (2)