Die Wunder der Welt auf kleinstem Raum
Wer am 3. Oktober 2020 google.de aufrief, wunderte sich vielleicht, dass statt des gewohnten, vierfarbigen »Google«-Schriftzuges ein Haus die Seite zierte, zusammengesetzt aus schwarzen, roten und gelben Puzzlestücken. Ein überraschendes Motiv mit einer wunderbaren Idee: Das Doodle aus der Feder des Berliner Illustrators Christoph Niemann vermittelt auf eingängige und spielerische Weise die Bedeutung des Tages der Deutschen Einheit.
Zu Deutsch bedeutet Doodle so viel wie Kritzelei oder Skizze. Bei Google haben Doodles inzwischen eine ganz besondere Tradition. Gleich nach Gründung begannen Sergey Brin und Larry Page nämlich, mit dem Namen ihres damaligen Start-ups zu spielen: Als die beiden am 30. August 1998 zum Kunstfestival »Burning Man« in die Wüste von Nevada reisten, machten sie das auf ihrer Homepage kenntlich und hinterlegten dort eine Art Abwesenheitsnotiz: Hinter das zweite »o« des Wortes »Google« auf der Startseite stellten sie für die Dauer der Veranstaltung ein Strichmännchen, das Symbol des »Burning Man«-Festivals.
Schon wenig später entstand ein neues Doodle: Page und Brin beauftragten ihren damaligen Praktikanten Dennis Hwang, ein Doodle zum französischen Nationalfeiertag zu erstellen. Die Resonanz war groß, die Nutzerinnen und Nutzer hatten ihre Freude. Prompt wurde Dennis Hwang zum »Chef-Doodler« ernannt: Er kümmerte sich darum, dass fortan auf den Google-Startseiten weltweit immer wieder besonderer Tage gedacht wird, dass dort lokale Berühmtheiten und Pionierinnen und Pioniere, Künstlerinnen und Künstler, Musikschaffende oder Forschende gewürdigt werden. Wer auf die jeweilige Zeichnung oder Animation klickt, erfährt stets mehr zum Thema, zum Menschen, sieht ein Video oder ein Spiel, wird überrascht und unterhalten.
Am 12. Oktober zum Beispiel sahen Nutzerinnen und Nutzer auf der deutschen Google-Startseite eine Illustration zu Ehren des deutsch-afrikanischen Philosophen Anton Wilhelm Amo. Amo kam im Jahr 1703 in Ghana zur Welt und wurde nach Amsterdam verschleppt, ehe sein Leben eine für jene Zeit erstaunliche Wendung erfuhr: Anton Wilhelm Amo erlangte vermutlich als einer der ersten Afrikaner die Doktorwürde einer europäischen Universität. Mit seiner Arbeit als Philosoph und Rechtswissenschaftler in Berlin beeinflusste er die Aufklärung und wurde ein Vordenker der Menschenrechte und der Gleichberechtigung. Im Herbst 2020 erfuhr diese außergewöhnliche Biografie eine späte Würdigung: Der Bezirk Berlin-Mitte nannte die Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße um.
Wie entstand dieses Doodle und wie fand es seinen Weg auf google.de? Googles Doodle-Team las von Amos Geschichte und beauftragte die Künstlerin Diana Ejaita, ein Andenken an den außergewöhnlichen Mann zu zeichnen. »Ich fühlte mich geehrt«, berichtet die Berlinerin. »Ich war begeistert, dass ich die Chance hatte, meine Fähigkeiten einzubringen und dazu beizutragen, diese Geschichte zu erzählen.« Diana Ejaitas Arbeit reiht sich ein in eine Galerie von inzwischen mehr als 4000 Doodles, die auf Google-Startseiten in der ganzen Welt erschienen sind – mal nur in einem bestimmten Land, mal auf mehreren Kontinenten gleichzeitig. All diese Bilder, Videos und Animationen im Doodle-Archiv erlauben eine kunterbunte Reise durch die menschliche Ideenwelt. Sie vermitteln den spezifischen Zauber von Ländern oder die Gewohnheiten von Kulturen, sie widmen sich herausragenden Ereignissen, Festivitäten und Kuriositäten, sie werfen ein Licht auf beeindruckendes gelebtes Leben – ganz gleich ob argentinische Feministin, türkische Künstlerin, taiwanesischer Puppenspieler oder britischer Telefonzellenerfinder.
Und damit ist die gestalterische Bandbreite der Doodles nicht auserzählt. Auf dieser kleinen Fläche von 500 x 200 Pixeln werden schnelle Geschichten erzählt, wie etwa zur Sommersonnenwende. Der Platz dient aber auch dazu, zum 44. Geburtstag des Hip-Hop ein interaktives Tutorial zur Kunst des DJings auszubreiten. Anlässlich des 100. Bauhaus-Jubiläums erschien in Deutschland ein Streifzug durch die Geschichte dieses Kunststils, während die seltene Himmelsnachbarschaft der Planeten Jupiter und Saturn den Doodlern einen lässig gezogenen Hut wert war.
Und wer steckt hinter dieser Vielfalt? Fast alle lokalen Vorschläge fließen im Team von Erich Nagler zusammen, seines Zeichens Lead Art Director im Doodle-Team bei Google in den USA. Nagler kümmert sich mit 11 weiteren Art Directors und Künstler:innen sowie mit zwölf Entwickler:innen darum, dass jedes Jahr mehrere Hundert Doodles einen Tag lang die Google-Startseiten in aller Welt schmücken. Allein in Deutschland gehen Monat für Monat ein oder zwei neue Doodles online.
»Unsere Doodles sollen überraschen und verzaubern«, sagt Erich Nagler. »Wir verstehen ein Doodle wie eine wunderschöne Postkarte, die dann und wann im Briefkasten liegt.« An Ideen mangelt es nicht im Geringsten, so Nagler. Vorschläge kommen von Künstler:innen und Google-Mitarbeiter:innen aus der ganzen Welt. Aber auch jeder Nutzer und jede Nutzerin kann Ideen dazu schicken, wem an dieser prominenten Stelle dringend einmal die Ehre erwiesen werden sollte. Erich Nagler und sein Team wählen die schönsten Ansätze aus, setzen sie selbst um oder beauftragen externe Illustratoren oder Künstler und Künstlerinnen. Immer wieder erfinden sie dabei die Rubrik neu, tüfteln mit technisch versierten Kolleg:innen an interaktiven Formaten oder an kleinen Spielen. Wer Lust auf eine Runde Basketball, Pacman oder Kricket hat, muss nur auf das Doodle klicken. Das witzig animierte Halloween-Spiel in tiefer See führt seine Spieler:innen durch mehrere Levels. Und wer auf Drehpuzzles steht, wird die Doodle-Version des Zauberwürfels lieben.
Eines der technisch anspruchsvollsten Doodles erschien übrigens vor zwei Jahren. Schon länger, so Erich Nagler, wollte sich sein Team dem Werk des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach widmen. 2019 dann war es so weit: Zum ersten Mal erschien ein durch künstliche Intelligenz gestütztes Doodle, mit dem jeder Mensch ein Bach-Werk komponieren kann; einfach nur ein paar Noten eingeben, schon errechnet eine Maschine-Learning-Anwendung mit dem Wissen von mehr als 300 Bach-Harmonien eine neue, individuelle Melodie im Stile des Komponisten.
Ohnehin erinnert sich Erich Nagler gern an die Doodles, die sein Team für die deutsche Google-Seite erstellen ließ. Fragt man ihn nach seinen liebsten Entwürfen, nennt er unter anderem eine Animation der österreichischen Illustratorin Laura Edelbacher: Sie widmete sich 2017 dem Ampelmännchen.
Wer noch mehr über die Entstehung der Doodles erfahren möchte: Eine Folge von »Frag doch Google« begibt sich auf die Spuren des Doodle-Teams in San Francisco.
Illustrationen: Christoph Niemann, Google (4), Diana Ejaita, Ramona Ring, Rocket & Wink, Laura Edelbacher