Haltbare Buchstaben
Seit 2008 scannt und archiviert die Bayerische Staatsbibliothek Bücher in Kooperation mit Google. Was als misstrauisch beäugtes Projekt begann, ist heute ein Vorbild an Pionierarbeit. Allen Skeptikern zum Trotz
Von außen betrachtet, wirkt die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) nicht unbedingt wie ein Epizentrum der Digitalisierung. Man könnte meinen, dass der permanente Wandel der Gegenwart von ihrer mächtigen Fassade an der Münchner Ludwigstraße einfach abprallt. Beständigkeit statt Disruption. Die Statuen von vier griechischen Gelehrten wachen über die Pforte. Tritt man ein, verstärkt sich der würdevolle Eindruck sogar noch, Marmor und Stuck überall.
Dieser erste Eindruck könnte nicht mehr täuschen: Seit rund zwei Jahrzehnten arbeitet man in München an der Digitalisierung der Bestände, seit 2007 in Zusammenarbeit mit Google. Die Arbeit beinhaltet mehr als nur das schnöde Scannen und Speichern von gedruckten Buchstaben. Es ist eine Aufgabe von industriellem Maßstab, die einer maßgeblichen Frage folgt: Wie bekommt man den Wissensschatz aus den vergangenen fünf Jahrhunderten in eine Form, die länger als die nächsten fünf Jahrhunderte verfügbar bleibt? Und das auch noch unabhängig von sich schnell ändernden Dateiformaten oder neuen Speichertechnologien. Man kennt das ja von seinen eigenen Aufzeichnungen. Gedanken, Texte und Bilder, die man vor Jahren einmal gesichert hat, verrotten nun auf DVDs, CDs oder gar Disketten vor sich hin. Nun muss man das nur noch auf ein Archiv hochrechnen, in dem mehr als zehn Millionen Bücher aller Art lagern und zu dem jedes Jahr auch noch knapp 130 000 Bücher hinzukommen. Die schiere Menge sprengt die Vorstellungskraft. Wo soll das alles hin? Dauerhaft.
Wie bekommt man den Wissensschatz aus den vergangenen fünf Jahrhunderten in eine Form, die länger als die nächsten fünf Jahrhunderte verfügbar bleibt?
»3-D-Internet-Applikationen, ScanRobotics, Massendigitalisierung und digitale Langzeitarchivierung, Visual Search, Mobile Applikationen, Gesture-Based-Computing« – die Aufgabenbereiche von Klaus Ceynowa lesen sich mehr wie die eines Silicon-Valley-CEOs als die eines Bibliotheks-Chefs. Der Generaldirektor der BSB ist ein versierter Manager der Digitalisierung. Jetzt sitzt Ceynowa in seinem Büro mit sprungturmhohen Bücherschränken und sagt: »Es gibt keinen Gegensatz zwischen gedruckt und digital. Ein Buch ist erst mal nur ein Informationsträger unter vielen.« Nicht gerade ein Satz, den man von einem Bibliotheks-Chef erwarten würde.
Zu Beginn der Kooperation im Jahr 2007 hatte die BSB schon einiges in Eigenregie in digitale Form gebracht. Aber es schien aussichtslos, das große Loch zwischen spätem 16. und Mitte 19. Jahrhundert online zu bringen. Die Menge war einfach zu groß. Trotz staatlicher Förderungen, etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, war das Projekt Langzeit-Digitalisierung mit Kosten von etwa 60 Millionen Euro alleine nicht zu stemmen. Da war die Kooperation mit Google naheliegend. Ein Jahr wurde verhandelt, erinnert sich Ceynowa. »Es wurde immer wieder von Skeptikern gesagt: Ihr kannibalisiert euch. Das ist jedoch Quatsch.« Das Projekt beinhaltet ausschließlich gemeinfreie Werke und nicht kommerzielle Nutzung. Außerdem erhält die Staatsbibliothek von jedem von Google eingescannten Werk eine eigene, gleichwertige Kopie, die auf ihren eigenen Servern gelagert wird. 806 Terabyte an Daten sind dort bereits zusammengekommen. Allein die Kosten für die Serverpflege betragen knapp 350 000 Euro jährlich. Unabhängig zu bleiben ist nicht billig. 2013 wurde die Marke von einer Million Buch-Scans geknackt, mittlerweile sind es mehr als doppelt so viele. Es ist ein Engagement, dessen Nutzen schon jetzt messbar ist: Die BSB unterhält das größte Digitalisierungszentrum und den größten digitalen Datenbestand aller deutschen Kultureinrichtungen. Außerdem ist Deutsch im Bestand von Google Books nach Englisch mittlerweile die zweithäufigste Sprache, und das, obwohl sie im gesamten Internet nur auf Rang vier platziert ist.
Die Münchner waren in ihrem Pragmatismus Vorreiter. Als erste große europäische Bibliothek wagte man die Partnerschaft mit Google. An einen Aufschrei, der durch die Kulturlandschaft ging, erinnern sich heute BSB-Mitarbeiter, die von Anfang an an dem Projekt beteiligt waren. Schriftsteller und Verlage schrieben Appelle und Protestnoten, man fürchtete eine Aushöhlung des Urheberrechts. Kann, nein, darf eine solche Institution wie die Staatsbibliothek ihre Archive der Privatwirtschaft öffnen? Mitunter waren es aber auch ganz konkrete Ängste. Etwa die Befürchtung von Bibliotheksverantwortlichen, dass ihre Besucher wegbleiben, wenn erst alle Bücher im Netz verfügbar seien. »Viele kulturelle Einrichtungen sind verständlicherweise zunächst einmal vorsichtig«, sagt Michael Firnhaber, bei Google zuständig für Kooperationen mit Museen und Bibliotheken. »Da hilft es ungemein, wenn ein Partner vorangeht. Die BSB hat in diesem Sinne sicherlich Pionierarbeit geleistet.« In München befindet man sich dabei in bester Gesellschaft, auch die Universitätsbibliotheken von Oxford, Stanford und der halben Ivy League pflegen eine ähnliche Kooperation mit Google. Mehr als 40 Bibliotheken weltweit sind inzwischen Teil des Programms. Für Firnhaber ist aber nicht nur die Konservierung des Wissens selbst wichtig, sondern auch dessen bessere Sicht- und Nutzbarkeit. In nächster Nähe zu den bekannten Tools, der Suchmaschine oder YouTube findet sich auch Google Books. »Wir wollen den Millennials zeigen: ›Hey, diese Kultur, die geht auch euch etwas an‹«, sagt Firnhaber.
Wie sieht die Bücherei der Zukunft aus? Ist sie nur noch ein virtueller Datenspeicher im Netz? Es zeigt sich, dass dieses Szenario eher nicht eintreten wird. Die bedächtige Arbeit im Lesesaal und das papierfreie Wirken in der Cloud schließen sich nicht aus. Die Sehnsucht nach Präsenz ist bei Studenten und Forschern gleichermaßen ungebrochen: Die Öffnungszeiten der Bibliotheken müssen verlängert, die Räumlichkeiten beständig ausgebaut werden. Für den Archivierungsvorgang braucht es natürlich auch Platz. Biegt man im Allgemeinen Lesesaal der BSB rechts ab und tritt durch eine unscheinbare Tür, gelangt man in den Maschinenraum der Bibliothek. In einem Zimmer digitalisieren Bibliotheksmitarbeiter behutsam wertvolle Handschriften, im nächsten arbeiten automatische Scanroboter, 1800 Seiten pro Stunde können sie unter optimalen Bedingungen erfassen.
Wie sieht die Bücherei der Zukunft aus?
Man sieht Klaus Ceynowa die Faszination für Technik an. Am Handgelenk trägt er eine Smartwatch, vor seinem Schreibtisch verschiebt ein futuristischer Ventilator die schwüle Münchner Sommerluft, das Gerät sieht aus wie ein Artefakt aus einem Science-Fiction-Film. Der Direktor treibt die Dinge gerne selbst voran. Mit dem ansteckenden Enthusiasmus des Experten spricht er über Smartphone-Apps, digitale Sammlungen, virtuelle Arbeitsumgebungen im Netz oder Big-Data-Anwendungen. Aus der altehrwürdigen Institution ist schon längst ein Zukunftslabor in Sachen Wissensverbreitung geworden. »Wir würden es jederzeit wieder tun«, sagt Ceynowa, auf das Google-Projekt angesprochen.
Der Großteil des Scanvorgangs des ursprünglichen Bestandes ist inzwischen abgeschlossen. Momentan ist man im 19. Jahrhundert angelangt. Man spricht von der sogenannten Moving Wall, die sich langsam durch die Jahrhunderte schiebt, jedes Jahr kommen knapp 15 000 Bücher nach, die nun gemeinfrei geworden sind. In Deutschland erlischt das Urheberrecht in der Regel 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Es gibt also noch viel zu tun. Oder besser: Es wird nie aufhören.
„Zeitzeugenportal“
Geschichte aus erster Hand
Wie bewahrt man menschliches Wissen für die künftigen Generationen? Während in der Bayerischen Staatsbibliothek Bücher digitalisiert werden, wächst bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein neues Videoarchiv heran: Das »Zeitzeugenportal« birgt unter anderem Interviews mit Persönlichkeiten wie Hildegard Hamm-Brücher oder Hans-Dietrich Genscher. Hinzu kommen Material aus den Beständen des ZDF sowie Erfahrungsberichte von Menschen, die nicht in den Annalen der Geschichte auftauchen, deren Leben aber von den Zeitläufen umgekrempelt wurden. Inzwischen decken rund 8000 einzelne Clips einen Zeitraum ab, der sich von 1914 bis ins frühe 21. Jahrhundert erstreckt. Und die Plattform mit den persönlichen Berichten soll auch in Zukunft weiterwachsen. »Der Bestand lädt dazu ein, individuelle Erzählungen über die Vergangenheit zu entdecken, zu recherchieren und zu analysieren«, heißt es auf www.zeitzeugen-portal.de.
Foto: Bayerische Staatsbibliothek/H.-R. Schulz; Illustration: Benedikt Rugar, Frank von Grafenstein