Das Dorf von morgen

Während die Städte in Deutschland von der Digitalisierung profitieren, verlieren immer mehr ländliche Regionen den Anschluss. Dass es auch anders gehen kann, zeigt Spiegelau im Bayerischen Wald. Ein Besuch

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Von der Autobahnabfahrt bis zur Zukunft sind es 40 Kilometer. Dazwischen: Pferdekoppeln, nebelverhangene Felder, Kirchtürme und ein paar Wirtshäuser mit bleichen Fassaden, die geduldig auf Kundschaft warten. Eine Gegend, die wirkt, als sei sie aus der Zeit gefallen. Und doch wird ausgerechnet hier das Morgen gelebt. Denn tief im Bayerischen Wald, einen Steinwurf von der tschechischen Grenze entfernt, liegt Spiegelau – das digitalste Dorf Deutschlands.

Während andernorts auf dem Land noch nicht einmal der Handyempfang funktioniert, sind die knapp 4000 Einwohner:innen in Spiegelau untereinander und mit der ganzen Welt vernetzt. Gottesdienste und Bürgerversammlungen werden hier online übertragen, Eltern melden ihre Kinder über eine Schul-App krank, und der Hausarzt bietet Sprechstunden per Videokonferenz an. Selbst die Verwaltung und der Bürgerservice im Ort arbeiten komplett digital. Wie ist einem kleinen Ort in Niederbayern etwas gelungen, an dem sogar manche Metropolregionen scheitern?

Karlheinz Roth vor Touchscreen der Gemeinde Spiegelau

Orientierung für Bürger:innen und Tourist:innen: In der Gemeinde Spiegelau informieren mehrere Touchscreens unter anderem über Veranstaltungen, Straßenbauarbeiten oder Wanderrouten.

»Eine gute digitale Infrastruktur ist nicht nur das Tor zur Zukunft, sondern eine Grundvoraussetzung«

Karlheinz Roth, Bürgermeister von Spiegelau

Karlheinz Roth in seinem Amtszimmer

»Die Mieten hier sind günstig, und die Natur ist schön. Wenn der Standort der Arbeit keine Rolle mehr spielt, dann sind wir ein prädestinierter Lebensmittelpunkt«: Der Bürgermeister von Spiegelau, Karlheinz Roth, in seinem Amtszimmer.

Die Antwort sitzt in einem Büro im Rathaus. Karlheinz Roth ist seit 2014 Bürgermeister der Gemeinde. Auf den ersten Blick wirkt der 40-Jährige mit seiner straff gebundenen Krawatte und den handgeschnitzten Marienfiguren neben dem Schreibtisch eher wie jemand, der sich wohlfühlt, wenn das Leben gewohnten Wegen folgt. Und doch ist es ihm zu verdanken, dass sein Dorf die digitale Transformation schneller meistern kann als andere Kommunen. Alle 33 Ortsteile von Spiegelau auf einer Fläche von mehr als 40 Quadratkilometern sind mittlerweile ans Glasfasernetz angeschlossen. Zusätzlich können Bürger:innen und Besucher:innen acht WLAN-Hotspots im Dorf nutzen. Für den Breitbandausbau in seiner Gemeinde sammelte der gelernte Rechtspfleger Roth bereits seit 2004 unermüdlich Fördergelder bei der Bayerischen Staatsregierung – zuerst ehrenamtlich, später als amtierender Bürgermeister. »Eine gute digitale Infrastruktur ist nicht nur das Tor zur Zukunft, sondern eine Grundvoraussetzung. Wir haben früh auf die richtigen Themen gesetzt und darum einen Vorsprung«, erklärt Roth.

Ein Vorsprung, der Spiegelau 2017 zugutekam. Gemeinsam mit dem Nachbarort Frauenau bewarb sich der Ort für das Pilotprojekt »Digitales Dorf« der Bayerischen Staatsregierung – und bekam den Zuschlag. Ziel der Initiative ist es, mithilfe digitaler Angebote die Landflucht zu stoppen und die Dörfer als Wohn- und Wirtschaftsraum langfristig wieder attraktiver zu machen. Mehrere Hunderttausend Euro stellte der Freistaat dem Gemeindeverbund für diesen Umbau zur Verfügung.

»Wir wollen keine Digitalisierung um jeden Preis. Sie ist nur dann erfolgreich, wenn sie den Alltag erleichtert und ihn nicht komplizierter macht«

Bürgermeister Karlheinz Roth

Lydia Macht

Seit dem vergangenen Schuljahr kümmert sich die 23-Jährige Lydia Macht um die Digitalisierung der Grundschule in Spiegelau und bringt den Schüler:innen den Umgang mit Tablets bei.

In den vergangenen vier Jahren entwickelten Frauenau und Spiegelau gemeinsam mit dem Technologie Campus Grafenau (TCG), einer Forschungseinrichtung der Technischen Hochschule Deggendorf, nicht nur Strategien und Konzepte für die größten Herausforderungen, die ein Leben auf dem Land mit sich bringt, sondern bündelte und vernetzte sie auch miteinander. Und zwar über die Onlineplattform »Dahoam 4.0«: Mit einem einzigen Login können nun Bürger:innen auf dem Portal alle digitalen Tools nutzen. Beispielsweise die Rathaus-App: Per Push-Nachricht informiert sie die Nutzer:innen über Neuigkeiten, das Wetter, aktuelle Veranstaltungen oder Straßensperren. Gleichzeitig lassen sich wichtige Dokumente, Formulare und Anträge nicht nur runter-, sondern auch hochladen. Auch ein »Schulmanager« ist auf der Plattform zu finden: Über die App verschicken Lehrer:innen etwa Elternbriefe, Kontaktdaten, Noten und Anwesenheitslisten an die Familien. Um volle Wartezimmer und lange Anfahrtswege zu vermeiden, sind außerdem Anwendungen für die digitale Gesundheitsvorsorge auf dem Portal integriert. Die Idee dahinter: Versorgungsassistent:innen besuchen die Patient:innen zu Hause und messen beispielsweise den Blutdruck oder die Sauerstoffsättigung. Über ein Tablet werden die Daten in Echtzeit an den Hausarzt geschickt. Per Videocall kann dieser dann aus der Ferne über die weitere Behandlung entscheiden.

Aber auch die smartesten Lösungen nützen nichts, wenn Menschen sie nicht bedienen können. Die Gemeinde setzte darum auf Weiterbildungsangebote. Gemeinsam mit der Hochschule organisierte Bürgermeister Karlheinz Roth unter anderem Workshops für Senior:innen, in denen diese den Umgang mit Tablets und PCs übten. Eine einfache und eigens zu diesem Zweck programmierte »Wisch«-App kam zum Einsatz, mit der die Kursteilnehmer:innen lernten, wie sie ihr Smartphone mit den Fingerkuppen steuern. Als ergänzendes Hilfsangebot organisierten die Trainer:innen digitale Sprechstunden, in denen die Senior:innen ganz konkrete Fragen stellen konnten, etwa wie Onlinebanking funktioniert, wie man im Netz einkauft oder Fotos verschickt. Mittlerweile treffen sich viele der ehemaligen Workshop-Teilnehmer:innen einmal in der Woche zum digitalen Stammtisch und tauschen sich analog aus und unterstützen sich.

Tablets mit Ladekabeln

Aufgeladen und einsatzbereit: Mit diesen Tablets lernen die Grundschüler:innen von Spiegelau unter anderem, wie man online recherchiert.

Doch so vielfältig die Möglichkeiten waren, nicht alle digitalen Helfer wurden von den Menschen in Spiegelau angenommen. Ein konkretes Beispiel ist die Dorfbus-App. Über diese konnten Bürgerinnen und Bürger den Dorfbus in Spiegelau buchen, der schon seit geraumer Zeit als Zusatzangebot zum regulären ÖPNV unterwegs ist. »Wir haben festgestellt, dass die meisten Nutzerinnen und Nutzer die Telefon-Hotline bevorzugen«, sagt Karlheinz Roth. »Und das ist okay. Wir wollen keine Digitalisierung um jeden Preis. Sie ist nur dann erfolgreich, wenn sie den Alltag erleichtert und ihn nicht komplizierter macht.«

Gut angenommen wiederum wurde der Coworking-Space. Bereits vor der Corona-Pandemie erprobten die Spiegelauer:innen das Konzept des mobilen Arbeitens in den Räumen der Initiative »Kultur und Bildung in Spiegelau«. Das Büro auf Zeit ist mit Highspeed-Internet, Whiteboards, abschließbaren Rollcontainern und einer Kaffeeküche ausgestattet. Bis zu fünf Personen können hier gleichzeitig arbeiten. Einer, der das Angebot regelmäßig nutzt, ist Oswin Breidenbach. Der 32-jährige Informationsmanager arbeitet für die Akademie von TÜV Süd in München. Während der Pandemie zog er mit seinem Rechner zurück zu seinen Eltern aufs Land und fährt seither nur noch selten in die Großstadt. »Von unserem Haus bis zum Coworking-Space sind es 200 Meter, bis nach München pendele ich 90 Minuten. Ich spare mir sehr viel Lebenszeit«, sagt Oswin Breidenbach.

Touchscreen Gemeinde Spiegelau

Es sind Sätze wie diese, die Karlheinz Roth an eine Zukunft für die Region glauben lassen. Denn bei der Digitalisierung von Spiegelau geht es dem Bürgermeister nicht nur darum, das Leben der Einwohner:innen zu vereinfachen, er will auch junge Menschen in der Heimat halten. »Die Mieten hier sind günstig, und die Natur ist schön. Wenn der Standort der Arbeit keine Rolle mehr spielt, dann sind wir ein prädestinierter Lebensmittelpunkt. Es gibt keinen Grund mehr, sich in die enge Stadt zu zwängen.« Das sind Argumente, die auch Lydia Macht überzeugten. Nach ihrem Referendariat in Passau kehrte die Förderlehrerin in ihre Heimat zurück. Seit dem vergangenen Schuljahr kümmert sich die 23-Jährige um die Digitalisierung der Grundschule in Spiegelau und bringt den Schüler:innen den Umgang mit Tablets bei. 16 Geräte spendierte der Bürgermeister für diesen Zweck. Auf ihnen lernen nun bereits Erstklässer:innen mit speziellen Apps, wie Umlaute richtig ausgesprochen werden, wie man Videos aufnimmt, Texte einspricht, QR-Codes nutzt und im Internet recherchiert. Eine Stunde pro Woche unterrichtet Lydia Macht die einzelnen Klassen. Ab dem kommenden Schuljahr sollen die Kinder ihr Wissen in kleinen Tests unter Beweis stellen und im Anschluss einen »Digitalen Führerschein« erhalten. »Für die Schüler:innen bin ich nur noch die Frau mit den Tablets«, sagt Lydia Macht. »Es ist schön zu sehen, wie schnell sich Kinder für die digitalen Lerninhalte begeistern können, und ich bin stolz darauf, dass ich sie auf ihrem Weg in die Zukunft ein Stück begleiten kann.«

Was in Spiegelau längst Realität ist, kann auch in anderen Dörfern und Gemeinden gut gelingen, davon ist Karlheinz Roth überzeugt. Sein Rat für ein digitales Morgen: »Bürgermeisterinnen und Bürgermeister müssen digitale Überzeugungstäter werden, sich weiterbilden und mit gutem Beispiel vorangehen. Und dann: Einfach machen.«


Fotos: Roderick Aichinger

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