Dem Roboter die Hand reichen
Ein Streifzug durch die Wirklichkeit der Digitalisierung: wie Kulturmacher, Sozialarbeiter und Einzelhändler in München das Digitale für sich entdecken
Kultur: Leonardo da Vinci online bewundern
»Tripadviswurst«, sprich Trip-äd-weiß-wurst, lautet der sprechende Titel eines Münchner Digitalprojekts. Die Wortschöpfung ergibt sich aus der Verbindung eines Reiseportals mit Weißwurst. Sie deutet bereits an, dass es bei dieser Anwendung um das Entdecken von Kulinarik geht: Der Weimarer Alan Riedel und sein Team fanden sich kürzlich zu einem Hackathon in München ein und überlegten, was wohl wäre, wenn man alte Speisekarten Münchner Gasthäuser digitalisieren und online zugänglich machen würde? Wäre das der Beginn einer Plattform, auf der Gourmets von heute neue Inspiration finden könnten?
Tripadviswurst ist nur eines von rund 20 Projekten, die im Rahmen des Hackathons »Coding da Vinci« entstanden. Bei Hackathons wird in kürzester Zeit zu einem bestimmten Thema und mithilfe einer bestimmten Technologie in einem Team neue Software entwickelt. »Coding da Vinci« zum Beispiel will Kultureinrichtungen im ganzen Land den möglichen Nutzen der Digitalisierung nahebringen. Zu diesem Zweck kommen Kulturmacher und Programmierer zusammen. Die einen bringen vorhandenes Material mit, die anderen ihr Programmierwissen, das sie für den Bau neuer Apps, Spiele oder Visualisierungen nutzen.
»Coding da Vinci« fand nach der Berliner Premiere nun erstmals im süddeutschen Raum statt und startete mit einer Auftaktveranstaltung im Münchner Gasteig. »Wir hatten ein volles Haus und 120 hoch motivierte Teilnehmer«, erinnert sich Kathrin Zimmer vom Zentrum Digitalisierung.Bayern, die das Event mitbetreute. Das Deutsche Museum zum Beispiel brachte einen Datensatz mit Notenrollen für selbstspielende Klaviere mit. Das Museum für Kommunikation in Nürnberg war genauso dabei wie die Zoologische Sammlung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg. Die Monacensia, das Literaturarchiv der Stadt München, hatte einen Datensatz mit Speisekarten aus einst beliebten Münchner Wirtshäusern im Gepäck, in dem von »Herz am Rost« bis zu »illustrierte Gurke« allerhand Besonderheiten zu finden waren. Entwickler Alan Riedel und sein Team nahmen sie zum Anlass, eine Speisekarten-Erkundungs-App zu konstruieren.
Wir hatten ein volles Haus und 120 hoch motivierte Teilnehmer
Kathrin Zimmer Zentrum Digitalisierung.Bayern
Echte Neuerungen entstehen also im Spiel, im Pingpong zwischen den Disziplinen. Das wusste auch der Universalgelehrte Leonardo da Vinci, der sich für Architektur, Biologie und Malerei gleichermaßen interessierte und aus genau diesem verzweigten Wissen schöpfte. Das einzige Bild des italienischen Meisters im süddeutschen Raum hängt übrigens in der Alten Pinakothek: die Madonna mit der Nelke. Noch vor zwei Jahren hätten Besucher die Reise ins Kunstareal München höchstpersönlich unternehmen müssen, um sich der Kunst des Florentiner Künstlers zu vergewissern. Seit April 2017 können mit dem Launch von sammlung.pinakothek.de die Gemälde der Alten Pinakothek auch online besichtigt werden.
Maximilian Westphal verantwortet die digitale Kommunikation der Pinakotheken. Er sagt, es sei eine ganz bewusste Entscheidung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen gewesen, ihren Bestand nicht nur aufzulisten, sondern auch abzubilden. »Die Onlinesammlung soll nicht nur Appetizer für die Museen sein«, so Westphal, »sie soll auch helfen, unserem Bildungsauftrag im digitalen Raum nachzukommen.« Dazu passen auch die einminütigen Clips, die sogenannte #Kunstminute, in denen Experten ausgewählte Exponate der Pinakotheken prägnant erläutern.
Übersicht gewinnen
Wie steht es um das digitale München? Wir haben die Statistik befragt
Neuer Schwerpunkt
Von etwas mehr als 1 Million Beschäftigten in München arbeiten weit über 550 000 in Branchen mit hohem Digitalisierungsgrad.
Ganz vorne
Die EU schaut sich immer wieder die Leistungsfähigkeit der Informations- und Kommunikationsbranchen in europäischen Städten an. Bei der letzten Studie lag München auf Platz 1 – vor London und Paris.
Klick & fahr
580 000 Menschen in München und der Region nutzen das Handyticket der MVG.
Prima Klima
Satte 96 Prozent der Gründer beurteilen den Standort München nach einer Studie eher gut oder sogar sehr gut.
Riesenwert
Eine internationale Studie schätzt den Wert des Start-up-Ökosystems in München und Region – und kommt auf die Summe von 4,5 Milliarden Dollar.
Neues Geld
Die folgenden drei Münchner Start-ups hatten im vergangenen Jahr die größten Finanzierungsrunden (dabei erhöhen Investoren mit ihrem Geld die Kapitaleinlagen des Unternehmens): Die Datenexperten Celonis und die Smart-Home-Pioniere von Tado warben je 50 Millionen Euro ein. Die Macher der Fitness-App Freeletics bekamen 45 Millionen hinzu.
Beschäftigung
Vor allem in den digitalisierten Wirtschaftsbranchen wächst die Zahl der Beschäftigen in München in einem schnellen Tempo. Allein bei den IT-Dienstleistungen wurde in den vergangenen fünf Jahren ein Zuwachs von 48,5 Prozent Beschäftigten verzeichnet – von 34246 auf 50844.
Bis zu 300 Millionen Euro
So viel Geld will München in die Digitalisierung der Stadtverwaltung stecken.
Quelle: Stadt München, EU-Branchenstudie, MVG, PwC, Global Start-up Ecosystem Report, Bundesagentur für Arbeit
Keine andere Kunstsammlung auf der Welt stellt bis heute so viele Gemälde und zugehörige Bestandsdaten digitalisiert zur Verfügung wie die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Die Wikidata-Seite »Sum of all paintings« verzeichnet die Zahl der weltweit digitalisierten, mit offener Lizenz verfügbaren und in Wikipedia aufgenommenen Bilder. Sie führt den bayerischen Zusammenschluss von Museen und Galerien, zu dem auch die Münchner Pinakotheken gehören, mit großem Abstand an der Spitze des Rankings: Fast 18 000 Datensätze sind verzeichnet (wobei nicht alle mit farbiger Abbildung verfügbar sind). »Das Bemühen, den ganzen Bestand ins Netz zu stellen, stößt auch aus personellen Gründen an seine Grenzen«, so Maximilian Westphal. Die Rechte erlöschen 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, sodass neuere oder zeitgenössische Kunst nur mit zusätzlichem Aufwand zugänglich gemacht werden kann. »Das betrifft große Teile der Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne«, erklärt Westphal. »Hier sind nach momentanem Stand zeitraubende Einzelverhandlungen nötig. Außerdem ist die Zahlung von Lizenzabgaben kaum stemmbar.«
Mit der sogenannten Münchner Note möchten die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen auf diese Schieflage aufmerksam machen. Dem offenen Appell, der eine einheitliche Lösung für die Urheberrechtsproblematik fordert, haben sich inzwischen mehr als 50 Kultureinrichtungen angeschlossen. Maximilian Westphal zeigt sich zuversichtlich: »Die Verhandlungen mit der Verwertungsgemeinschaft Bild-Kunst laufen, und wir denken, dass wir bis Ende 2019 einen für alle Beteiligten gangbaren Weg in Form eines Erprobungsvertrags gefunden haben.«
Soziales: Dem Pflegeroboter die Hand reichen
Die Vorbereitungen für ein Projekt ganz anderer Art laufen derzeit in Garmisch-Partenkirchen: Das Caritas-Altenheim St. Vinzenz bereitet sich auf den Einsatz von Pflegerobotern vor. »Seit zwei Jahren sind wir mit dem DLR, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, in Kontakt«, erklärt Alexander Huhn, zuständiger Kreisgeschäftsführer der Caritas. Ab 2020 sollen die Modelle EDAN und Justin den Pflegeprozess unterstützen.
Ein gemeinsames Projekt des DLR in Köln und eines Altenheims in Südbayern klingt nach einer merkwürdigen Allianz. Doch die Digitalisierung bringt immer häufiger ganz verschiedene Akteure zusammen. »Die Ingenieure des DLR sind auf uns zugekommen«, erinnert sich Alexander Huhn. »Wohl, um ihre Entwicklungen einem ganz handfesten Nutzen zuzuführen.« Die neuen Roboter sollen zum Beispiel zeitraubende Hol- und Bringdienste übernehmen. Die Caritas erhofft sich vor allem Entlastung für das Pflegepersonal: Das Plus an Zeit könne in zusätzliche menschliche Zuwendung gesteckt werden.
Dass es auch Bedenken zum geplanten Einsatz der technischen Geräte gibt, darüber sind sich Alexander Huhn und Georg Falterbaum, Direktor des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising, im Klaren. Während Patienten sich vereinzelt vor der »kalten Pflegehand« fürchten würden, äußerten Mitarbeiter die Angst, künstliche Intelligenz würde künftig ihren Arbeitsplatz überflüssig machen. »Beides wird nicht eintreffen«, sagt Alexander Huhn. »Die Roboter werden für uns immer nur unterstützende Assistenzsysteme bleiben.« Zudem würde dem Pilotprojekt in ethischen Fragen die Katholische Stiftungshochschule München zur Seite stehen, ergänzt Georg Falterbaum. »Gleich drei Lehrstühle begleiten die Einsätze.«
Der Caritasdirektor wirbt bewusst um Verständnis für die Experimentierfreude. »Die Menschen leben heute digitaler, und wir im Sozialwesen halten mit dieser Entwicklung Schritt.« Vor allem bei der Personalgewinnung oder bei der Vereinfachung von Verwaltungsprozessen könne die Digitalisierung helfen. Im Zentrum seiner Arbeit steht für Falterbaum nach wie vor der Kontakt zu den Menschen. »Die Digitalisierung darf keinesfalls neue Barrieren aufbauen und Menschen ohne gesicherten Zugang zum Netz oder das nötige Equipment abhängen.«
Einzelhandel: Die Balance zwischen on- und offline finden
Über ein zumindest verwandtes Problem denken die gut 8000 Münchner Einzelhändler nach. Wie viel Webpräsenz ist möglich und nötig? Mit einem Umsatz von circa elf Milliarden Euro stemmt der Einzelhandel einen Großteil der Wirtschaftsleistung. »Mehr als 85 Prozent der Betriebe verfügen inzwischen über eine eigene Homepage, ein Drittel verkauft online. Gerade in der Touristenstadt München ist eine ansprechende Webseite für die Geschäfte unabdingbar«, sagt Bernd Ohlmann, Sprecher des Handelsverbands Bayern. Gut 80 Prozent aller Touristen aus den Regionen China, Russland und von der Arabischen Halbinsel informieren sich nach Ohlmanns Worten bereits vor dem Reiseantritt intensiv im Netz über Shoppingmöglichkeiten.
Eine strukturelle Besonderheit im Münchner Einzelhandel ist der vergleichsweise geringe Filialisierungsgrad. »Während die durchschnittliche Quote in deutschen Großstädten gut 70 Prozent beträgt, liegt der Wert in München knapp unter 60 Prozent«, so Ohlmann. Konen, Hirmer, Ludwig Beck, Sport Scheck, Lodenfrey, Kustermann, Dallmayr – die Liste an inhabergeführten Unternehmen ist in der bayerischen Landeshauptstadt traditionell länger als andernorts. »Damit sich die lokalen Größen gegenüber Marktriesen behaupten können, brauchen sie neben einer geschickten digitalen Strategie auch überzeugende Einkaufserlebnisse vor Ort«, erläutert Bernd Ohlmann. Die Betriebe initiieren neue, zusätzliche kulinarische Angebote, wagen neue Beratungskonzepte vor Ort und legen Wert auf einen gesteigerten Wohlfühlfaktor. »Wo man sich gern aufhält, dort kauft man auch«, bringt Bernd Ohlmann den Nutzen auf den Punkt.
Wo man sich gern aufhält, dort kauft man auch
Bernd Ohlmann Bayerischer Handelsverband
Zwar sei das Onlinegeschäft mit circa zehn Prozent Zugewinn pro Jahr weiterhin der Wachstumstreiber der Branche, die Kurve aber flache zunehmend ab. Ohlmann sieht die bereits häufiger formulierte »Sehnsucht nach dem Analogen« als große Chance für den Einzelhandel. Aber auch der Umkehrschluss gilt: Wer im digitalen Raum nicht Schritt hält, wird die Chance vielleicht nicht mehr haben.
Paper Art Illustrationen: Katrin Rodegast; Fotografie: Ragnar Schmuck