Da steckt mehr drin
Data Scientists untersuchen riesige Datensätze nach Potenzialen. Eine gut bezahlte Aufgabe, für die es noch immer zu wenige Bewerber gibt
Der Harvard Business Review schreibt, es sei der »sexiest job« des 21. Jahrhunderts: Data Scientist. In fast jeder Branche werden im Moment Datenanalysten gesucht, teils direkt von Unternehmen, teils von Agenturen, die Firmen beraten. Allein die Jobbörse Stepstone listet im Februar mehr als 700 Stellenangebote in Deutschland. Große Unternehmen versprechen sechsstellige Jahresgehälter. Dabei können sich die meisten unter dem Job des Data Scientist nicht viel vorstellen. Was macht jemand, der sich mit dem »Rohstoff des 21. Jahrhunderts« beschäftigt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel Daten einmal nannte?
Marc Preusche, 34, ist Gründer und Geschäftsführer der Agentur LeRoi in Berlin, die sich auf Datenanalyse und deren konkrete Anwendung spezialisiert hat. Er berät Kunden wie Groupon, Moviepilot, Eventim oder RWE. »Jedes größere Unternehmen sammelt Daten, und das schon seit Jahren«, erklärt Preusche. »Doch anders als in der Forschung wurden diese Informationen in der Wirtschaft lange nicht genutzt.«
Etwa 90 Prozent aller Computerdaten weltweit wurden allein in den vergangenen zwei Jahren generiert. Eine immense Menge. Jeden Tag kommen 2,5 Milliarden Gigabyte dazu. Wie entdeckt man Sinn in diesem Meer an Informationen? Wie nutzt man die Potenziale zwischen den Zahlen?
Viele Kunden von LeRoi tun sich schwer, jene Daten richtig zu nutzen, die tagtäglich erfasst werden. Ein Online-Shop zum Beispiel ermittelt durch Dienste wie Google Analytics, zu welcher Uhrzeit, aus welchem Land und durch welche Suchbegriffe Kunden auf die Website gelangen. »Das ist auch interessant«, sagt Iskriyana Vasileva, 29, Data Scientist bei LeRoi. »Aber es ist noch ein weiter Weg, bis man diese Daten auch nutzen kann, um etwa Werbung gezielter einzusetzen oder die Logistik in einem Unternehmen zu verbessern.« Und damit ist die Aufgabe der Datenanalysten schon gut beschrieben. Sie sammeln all jene Informationen, die ihr Unternehmen aufzeichnet oder die ihnen Kunden zur Verfügung stellen. Dann beginnt die Sichtung. »Um eine Kaufentscheidung nachzuvollziehen, sehen wir uns zum Beispiel an, auf welcher Webseite oder in welchem Newsletter der Nutzer auf einen Link zur Webseite des Kunden geklickt hat. Nach einer Bestellung wissen wir, wo der Kunde wohnt, und können sehen, ob in seiner Gegend Plakate des Online-Shops hängen«, sagt Marc Preusche. »So bekommen wir ein umfangreiches Bild.« Danach beginnt die Analysearbeit, die manchmal Ähnlichkeiten mit dem Vorgehen von Detektiven hat. Sie erfordert Geduld. Beispiel Newsletter: Wenn bei einem Kunden die Aussendung an einem Samstag einigermaßen gut funktioniert, ist er schon zufrieden. Aber ist damit schon das ganze Potenzial geborgen? »Effektiver ist es, mit einem Test alle Möglichkeiten zu eruieren und herauszufinden, an welchem Wochentag und zu welcher Tageszeit die Ansprache über den Newsletter wirklich am besten klappt«, sagt Marc Preusche.
Der 29-jährige Nadiem von Heydebrand vergleicht die Arbeit eines Data Scientist deshalb mit der eines Wissenschaftlers, der aus Daten Ergebnisse produziert, um Mehrwerte und Erkenntnisse zu schaffen. Von Heydebrand ist Managing Data Scientist und Sales Director bei der Alexander Thamm GmbH, die sich nach eigenen Angaben 2012 als erstes Unternehmen in Deutschland auf Data Science spezialisierte. Die Münchner beraten Kunden wie BMW, Volkswagen oder Vodafone. Wenn ein Autohersteller den Wartungsprozess seiner Produktionsanlagen beschleunigen will, untersuchen Nadiem von Heydebrand und sein Team jene Daten, die innerhalb der Produktion erhoben werden. Dabei können verschiedenste Quellen in Betracht gezogen werden, zum Beispiel Bestelldaten, Personalpläne, Werkspläne oder sogar das Wetter. »Man kann sich das wie eine große Tabelle mit unendlich vielen Spalten vorstellen«, sagt Nadiem von Heydebrand. »Meine Aufgabe ist es dann, die Geschäftsfragestellung des Kunden – Wie kann ich meinen Wartungsprozess verbessern? – in eine datengetriebene Fragestellung zu übersetzen. Zum Beispiel: Was ist das optimale Zeitfenster für die Wartung? Dann entwickeln wir ein mathematisches Lösungsmodell, das die Frage beantwortet.«
Die Wortkombination Data Science kam um 2012 aus den USA nach Deutschland und wurde zum Modebegriff. »Ihre Ursprünge hat die Wissenschaft in den Nullerjahren«, sagt von Heydebrand. »Früher sprach man bei der Auswertung von Daten aber noch von ›Data Mining‹ oder ›Mathematischer Optimierung‹.« Während sich die Bezeichnungen änderten, nahm das Interesse an dieser Form der Unternehmensdiagnose beständig zu. Gleiches gilt für die Nachfrage nach entsprechenden Ausbildungen. »Den perfekten Data Scientist gibt es allerdings nicht«, sagt Nadiem von Heydebrand. »Ich habe ihn zumindest noch nicht getroffen. Er müsste um die fünf Studiengänge absolviert haben – Mathematik, Informatik, Betriebswirtschaft, Design, um die Ergebnisse aufzubereiten, und Kommunikation.« Von Heydebrand studierte Wirtschaftsinformatik mit Schwerpunkt Operations Research. »Es reicht nicht, nur Statistik oder Mathematik zu studieren«, sagt er. »Data Scientists brauchen Grundlagenwissen in allen genannten Bereichen und müssen dann noch Erfahrung in der praktischen Anwendung haben.«
Die ersten Lehreinrichtungen reagieren auf das Bedürfnis nach Data Scientists. Die LMU München bietet seit 2015 als eine der ersten Universitäten einen Master in Data Science an. Inzwischen sind Hochschulen unter anderem in Marburg, Albstadt-Sigmaringen (berufsbegleitend) oder Darmstadt nachgezogen. Die Studiengänge heißen zum Beispiel »Datenanalyse und -management« oder »Management und Data Science«.
Marc Preusche und Nadiem von Heydebrand finden diese Entwicklung gut, auch wenn die Angebote der Nachfrage nicht gerecht werden dürften. In der Alexander Thamm GmbH arbeiten inzwischen Informatiker, Statistiker, Wirtschaftsinformatiker, Mathematiker, aber auch Physiker, Biologen oder Wirtschaftsgeografen als Data Scientists. Seit der Gründung vor fünf Jahren bietet die Data-Science-Beratung ein Traineeprogramm an. »Das ist wie die Grundausbildung bei der Bundeswehr«, sagt Nadiem von Heydebrand. Das klingt anstrengend. Zugleich kommt dabei der Spaß nicht zu kurz: Wer neugierig ist und Freude daran hat, Rätsel zu lösen, ist in dem Beruf schon mal ganz gut aufgehoben. Das sieht auch Iskriyana Vasileva von LeRoi so. »Es fasziniert mich, welche Informationen man aus der Analyse von Daten gewinnen kann«, sagt sie. Die 29-Jährige kennt aber noch eine andere Beschreibung für ihre Tätigkeit. »Ich bringe Daten zum Sprechen.« Viel schöner kann man das Berufsbild wahrscheinlich nicht auf den Punkt bringen.
Fotografie: Jörg Brüggemann (2), Monika Höfler