Potenziale stärken
Führende Wirtschaftsvertreter:innen sind überzeugt, dass künstliche Intelligenz die Zukunft des Standorts Deutschland sichern kann – und immer mehr Unternehmen sind bereits dabei, die Potenziale zu nutzen
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Unternehmer:innen in nahezu allen Branchen zeigen, welche Vorteile ihnen KI bringt, oft mit weitaus geringerem Aufwand als vermutet: Einige Traditionsunternehmen arbeiten seit Jahren mit KI und finden – wie beispielsweise Villeroy & Boch – immer mehr Anwendungsmöglichkeiten.
Andere merken, wie schnell sich etwa Bestellprognosen mit wenigen Klicks auf bis zu 95 Prozent genau berechnen lassen. Und noch mehr Unternehmen wollen diesen Beispielen folgen: Laut Digitalverband Bitkom plant jeder sechste Betrieb konkret den Einsatz von KI, weitere 23 Prozent denken darüber nach.
»Etliche Industrieunternehmen sind gerade dabei oder stehen kurz davor, mit künstlicher Intelligenz ihre Prozesse zu straffen und so produktiver zu werden«, sagt Iris Plöger. Sie ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und sieht keine Alternative für die deutsche Wirtschaft: »Wir müssen in der industriellen Fertigung an der Weltspitze bleiben. Dies ist nicht ohne KI zu schaffen, und deswegen werden wir eine große Welle der KI-Implementierungen erleben.«
»Wir müssen in der industriellen Fertigung an der Weltspitze bleiben. Dies ist nicht ohne KI zu schaffen, und deswegen werden wir eine große Welle der KI‑Implementierungen erleben«
Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung BDI
Auch das Handwerk profitiert in Zeiten des Fachkräftemangels von digitaler Assistenz, erklärt Dr. Constantin Terton vom Zentralverband des Deutschen Handwerks. So steuern KI-Tools komplexe Bauprojekte. Sie berechnen in Echtzeit Ausfallrisiken, simulieren Baukonzepte und spüren bauliche Fehler auf. Und, ergänzt Terton: »Wenn Betriebe mit einfachen KI-Anwendungen ihre Buchhaltung oder Bestellannahmen entlasten, verschafft ihnen das mehr Zeit für ihr eigentliches Geschäft.«
Diejenigen Unternehmen, die zeitnah von den Chancen durch KI profitieren wollen, können vielfältige Hilfe erhalten und auch die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden planen – beispielsweise über KI-Zentren für den Mittelstand und für das Handwerk. Dabei werden sie feststellen: Die Werkzeuge werden immer niedrigschwelliger, es braucht nicht unbedingt KI-Fachleute, um sie zu nutzen. Und es gibt Vorreiter, an denen sie sich orientieren können.
Villeroy & Boch –
Traditionsunternehmen voll digitalisiert
Seit 275 Jahren stellt Villeroy & Boch Geschirr, Badkeramik und viele andere Produkte rund um den Haushalt her. Eine der Porzellanlinien ist fast seit der Gründung im Sortiment. »Früher gab es viel mehr Ausschussware, die zudem erst am Prozessende erkannt wurde. Jetzt fertigen wir Geschirr, Waschbecken und alles andere dank KI wesentlich effizienter«, sagt Dr. Christina Bender, Leiterin des Data Labs bei Villeroy & Boch.
Haben vor wenigen Jahren Menschen nur aufgrund ihrer Erfahrung alle Entscheidungen in der Produktion gefällt, erhalten sie jetzt unterstützende Handlungsempfehlungen aus Programmen basierend auf der KI-optimierten Infrastruktur von Google Cloud. Bei jedem Fertigungsschritt wird berechnet, wie sich Faktoren wie Materialbeschaffenheit oder Feuchtigkeit auf die Qualität der Werkstücke auswirken können.
Aufgrund dieser Transparenz können Mitarbeitende frühzeitig reagieren. Trotzdem genügen Werkstücke den strengen Ansprüchen nicht immer. Ein automatisiertes, KI-basiertes Kamerasystem erkennt kleine Macken früh im Prozess – die Ware wird ausgeschleust. »So sparen wir die Glasur und das erneute Brennen im Ofen, also Zeit und Energie«, erklärt Bender.
Auch im Onlineshop und im Vertrieb hilft KI bei der zielgenauen Ansprache der Kundschaft, beispielsweise indem sie Newsletter auf deren Vorlieben und Gewohnheiten zuschneidet. KI wird laut Bender immer mehr zum Erfolgsfaktor. »Wir haben jetzt so viel Erfahrung gesammelt, dass wir ständig neue Einsatzfelder entdecken und nach und nach umsetzen.«
»Jetzt fertigen wir Geschirr, Waschbecken und alles andere dank KI wesentlich effizienter«
Dr. Christina Bender, Leiterin des Data Labs bei Villeroy & Boch
REWE Group –
Mit den besten Empfehlungen der KI
Jeder Regalmeter im Supermarkt ist wertvoll. Der Platz ist knapp, und die Kundschaft sollte immer genau die Produkte finden, die sie am liebsten kauft. Bei der REWE Group unterstützt jetzt KI bei den Planungen. Für jeden der knapp 4000 Märkte in Deutschland gibt es einen individuell berechneten Vorschlag, wie die Verkaufsfläche bestmöglich aufgeteilt und mit Ware bestückt wird. Die KI berücksichtigt dabei sowohl Eigenschaften von Märkten und Artikeln eines Sortiments und berücksichtigt auch Trends wie die steigende Nachfrage nach veganen Lebensmitteln. »So haben wir einen Durchbruch in der Frage erzielt, wie die Produkte auf jedem Regalmeter optimal auf die Wünsche der Kundschaft ausgerichtet sind. Wir waren überrascht, wie schnell wir den Umsatz im Pilotprojekt steigern konnten«, sagt Clemens Wenzel-Ruelberg, KI-Experte bei REWE. Mit einem zehnköpfigen Team hat er in wenigen Monaten basierend auf Google‑Cloud-Produkten eine eigene KI entwickelt.
Stehen in einem bestimmten Markt 30 Kühlregale zur Verfügung, empfiehlt die KI die optimale Sortimentsverteilung – wie vier Meter für Käse, drei für Wurst, zwei für Butter. Die Verkaufsdaten sprechen für sich. »Die KI prognostiziert den Umsatz der jeweiligen Regale beeindruckend genau«, erklärt Wenzel-Ruelberg. Die Kühltheken vieler Märkte wurden bereits auf Basis der KI-Vorgaben optimiert, alle anderen Produktsegmente folgen demnächst. »Die Umsätze in den angepassten Märkten haben sich deutlich nach oben entwickelt«, sagt REWE-Kollege Thomas Deelmann, zuständig für die Fachbetreuung. So finden Kundinnen und Kunden auch die Produkte, die sie sich wünschen.
»Wir haben einen Durchbruch in der Frage erzielt, wie die Produkte auf jedem Regalmeter optimal auf die Wünsche der Kundschaft ausgerichtet sind«
Clemens Wenzel-Ruelberg, KI-Experte bei REWE
Giesswein –
Familienunternehmen setzt auf automatisierte Anzeigen
Weiche Filzhausschuhe sind das bekannteste Produkt von Giesswein, einem Familienunternehmen in dritter Generation. Damit ihre Hausschuhe, Sneaker und Wollkleidung den Weg von den österreichischen Produktionsstätten zu Kundinnen und Kunden in der ganzen Welt finden, richten die Tiroler ihren Vertrieb nach den modernsten Methoden aus und setzen auf KI: »Wenn es um Innovation geht, wollen wir die Ersten sein, denn gerade im E-Commerce-Sektor ist das enorm wichtig«, sagt Geschäftsführer Markus Giesswein.
Für ihn war es daher keine Frage, das digitale Marketing immer weiter zu automatisieren. Giesswein nutzt jetzt eine Google-Funktion, die alle Werbeinhalte wie Fotos, Videos und Texte als leistungsstarke Kombinationen generiert und ausspielt, um Werbeanzeigen so relevant wie möglich für die Kundin oder den Kunden auszusteuern.
Im Testzeitraum stieg der Gesamtumsatz um 19 Prozent, außerdem stieg der Anteil der Interessierten, die zu Käuferinnen oder Käufern wurden, um 12 Prozent, gleichzeitig sanken die Kosten pro gewonnener Kundschaft um 8 Prozent. Das wird möglich, weil die KI erkennt, welche Werbekanäle, beispielsweise die Google Suche oder YouTube, zu welchem Zeitpunkt die richtige Zielgruppe erreicht. Das Unternehmen macht so mehr Kundinnen und Kunden auf sich aufmerksam und weist sie zielgerichtet auf relevante Produkte hin.
Lufthansa Group –
Effizienter fliegen dank KI
Die Luftfahrt ist ein komplexes System: Wenn es – beispielsweise nach einem Gewitter oder unvorhergesehenen Verzögerungen – an einer Stelle hakt, müssen Routen, Wartungszyklen, Catering und vieles mehr so schnell wie möglich angepasst werden. Gemeinsam mit Google Cloud hat die Lufthansa Group eine Plattform entwickelt, die solche Prozesse vereinfachen und beschleunigen kann. Die »Operations Decisions Support Suite« (OPSD) wertet mithilfe von künstlicher Intelligenz alle relevanten Daten aus und berücksichtigt sowohl Erkenntnisse aus der Vergangenheit als auch aktuelle Ereignisse und Prognosen. Dabei wiegt die KI Hunderttausende Szenarien gegeneinander ab und bewertet sie. Die Planungs- und Steuerungsexpert:innen der Airline können danach bessere und schnellere Entscheidungen treffen, beispielsweise zur Zuordnung von Flugzeugen oder zu alternativen Verbindungen.
Das Ergebnis: Der Flugbetrieb wird optimiert. Und das kommt auch der Nachhaltigkeit zugute: SWISS, eine Tochter-Airline der Lufthansa Group, hat mit dem sogenannten Tail Optimierer zur passgenaueren Zuordnung von Flugzeugen und Strecken im Jahr 2022 rund 8700 Tonnen CO2 eingespart – auf die Lufthansa Group hochgerechnet wären das 50 000 Tonnen.
Illustrationen: Giacomo Gambineri