Wir sind hier
Im Digitalen lassen sich Plattformen für die vielfältigsten gesellschaftlichen Anliegen aufbauen: Vier Geschichten von Menschen, die sich online helfen, informieren oder zueinander finden
Barrierefrei unterwegs – Adina Hermann und Holger Dieterich von Sozialheld*innen e.V. in Berlin sammeln online in der »Wheelmap« Daten über rollstuhlgerechte Orte.
»Wenn man auf den Webseiten von Hotels Begriffe wie ›behindertenfreundlich‹ oder ›rollstuhlfreundlich‹ liest, haben sich das Leute ausgedacht, die selbst nicht betroffen sind. Sie wissen nicht, dass diese Angaben so gut wie nichts aussagen. Stattdessen brauchen wir genauere Informationen: Gibt es eine rollstuhlgerechte Toilette und Dusche? Wo sind Stufen und wie hoch sind sie? Diese Infos sind nicht nur für Hotels, sondern für alle öffentlich zugänglichen Orte wichtig, egal ob Kino, Schwimmbad, Museum oder Bahnhof. Dafür haben wir Sozialheld*innen, eine Organisation von Menschen mit Behinderung, die ›Wheelmap‹ entwickelt. Wir kennen die Herausforderungen im Alltag und vermuten sie nicht nur. Unsere Karte für rollstuhlgerechte Orte basiert auf der Weltkarte OpenStreetMap. Unser Ampelsystem zeigt an, wie barrierefrei ein Ort ist: Grün bedeutet ›voll rollstuhlgerecht‹, rot ›nicht barrierefrei‹. Jede und jeder kann Orte eintragen, inzwischen sind weltweit mehr als zwei Millionen eingezeichnet. Diese Daten, die sich von überall auf der Welt aufrufen lassen, ermöglichen Menschen mit Behinderung Teilhabe – denn als Rollstuhlfahrer:in fliege ich nicht ohne Recherche zum Beispiel nach England. Und Menschen ohne Behinderung führt die Wheelmap vor Augen, wo Barrieren bestehen. Jede und jeder kann durch die eigene Nachbarschaft gehen und eintragen, wo Stufen sind oder wie gut Toiletten erreichbar sind.
Wir brauchen mehr Verständnis, mehr Empathie und die Erkenntnis, dass Vielfalt für alle besser ist und dass es eine Innovation ist, wenn Angebote von allen Menschen genutzt werden können. Damit verbunden ist auch eine politische Forderung, die wir stellen: Es darf nicht sein, dass manche Menschen an bestimmte Orte nicht kommen, andere aber schon. Weltweit Daten zur Verfügung zu stellen ist für uns der erste Schritt. Im nächsten wollen wir die Barrieren beseitigen.«
Mehr Vielfalt im Kinderzimmer – Olaolu Fajembola gründete mit ihrer Geschäftspartnerin Tebogo Nimindé Dundadengar »Tebalou«, einen Onlineshop für Spielzeug und Bücher mit der Vielfalt, die sie in ihrer eigenen Kindheit vermisst haben.
»Tebogo und ich sind als Kinder der Achtzigerjahre in Deutschland auf – gewachsen und haben die gleichen Erfahrungen gemacht: 90 Prozent aller Puppen waren weiß, als People of Color waren wir unsichtbar in den Medien, und auch bei Gesellschaftsspielen und Kinderbüchern gab es eine große Lücke. Inzwischen sind wir selbst Mütter und haben festgestellt, dass sich kaum etwas verändert hat. Mit unserem Unternehmen wollen wir mehr Sichtbarkeit und Diversität in deutsche Kinderzimmer bringen. Als wir Tebalou 2018 an den Start gebracht haben, wollten wir nicht nur Spielzeug und Bücher verkaufen, sondern auch aufklären. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher denken oft, dass vielfältiges Spielzeug nice to have ist. Aber durch das Schweigen über People of Color oder zum Beispiel Menschen mit Behinderungen prägen wir die Sichtweise und das Selbstbewusstsein unserer Kinder. Spielzeug sollte Kindern die Welt aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Wenn es in Büchern oder Filmen um Asyl und Migration geht, sollte nicht nur die Flucht eines Kindes erzählt werden, sondern auch, wie es sich mit den Geschwistern streitet, wer seine beste Freundin ist und welche Abenteuer es erlebt. Digital bringen wir unser Thema in die ganze Welt und erreichen möglichst viele Menschen. In den sozialen Medien konnten wir eine große Community aufbauen, die sich regelmäßig darüber austauscht. Wir sind sicherlich nicht so bekannt wie die ganz großen Anbieter, aber ich sage hoffnungsvoll dazu: noch nicht.«
Bei Tebalou finden sich neben Büchern oder Puppen auch Lernspiele
Pausenhof im Internet – Schuldirektor Björn Lengwenus von der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg in Hamburg begleitete mit der YouTube-Show Dulsberg Late Night seine Schüler:innen durch die Pandemie.
»Unser Schulmotto ist be part – sei ein Teil. Unsere Schülerinnen und Schüler kommen aus 80 Ländern, als eine der ersten Schulen Hamburgs bieten wir seit den 80ern gemeinsamen Unterricht für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung an – auf den Zusammenhalt an unserer Schule waren wir immer stolz. Beim ersten Lockdown hatten wir darum große Angst. Für viele Kinder und Jugendliche ist die Schule eine Heimat, nun waren plötzlich alle zu Hause. Schnell haben wir gemerkt, dass wir online ganz gut Unterricht halten können, aber das ganze Drumherum fehlt: das Schulterklopfen, der aufmunternde Spruch. All die Dinge, die Spaß machen in der Schule, fallen weg – von den Spielen in der Pause bis zur Klassenreise. Dabei macht das den Geist von Schule aus. So kamen wir im Kollegium auf die Idee, jeden Abend eine YouTube-Show zu machen: Ich schalte mich als Moderator in die Kinder- und Wohnzimmer, und alle können mitmachen. Unsere Schülerinnen und Schüler waren sofort begeistert und haben unendlich viele Videobeiträge geschickt, in denen sie von ihrem Alltag berichteten oder zum Beispiel selbst gemalte Bilder zeigten. Die Show war wie ein digitaler Pausenhof.
Wenn man heute die 28 Sendungen ansieht, ist es fast ein zeitgeschichtliches Dokument, das einen die Pandemie noch einmal Schritt für Schritt erleben lässt. Ich habe das Gefühl, dass Kindern nicht genug zugehört wird, in der Gesellschaft und in den Medien. Wir haben uns Zeit genommen, genau das zu tun, und gemerkt, dass uns vieles entgeht, wenn wir ihre Meinung und Perspektiven ignorieren. Deswegen geht es mit Dulsberg Late Night weiter. Allerdings bin ich nicht mehr der Moderator. Viermal im Schuljahr produzieren verschiedene Jahrgänge ihre eigene Show.«
Mehr zum Engagement der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg
Ein sicherer Raum – Als Host des Young-Health-TikTok-Kanals »safespace« macht sich Saphira Siegmund für die Gleichberechtigung von queeren Menschen und für vielfältige Körperbilder stark.
»In meiner Schulzeit habe ich mich als queere Person nirgendwo wiedergefunden. Das fing schon im Kindergarten an, und auch später in der Schule im Sexualkundeunterricht wurde nur heteronormativer Sex thematisiert. Auch die etablierten Medien hinken der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. In den sozialen Medien dagegen spiegelt sich die gesamte Bandbreite der Gesellschaft wider, jede:r kann dort ansprechen, was sie oder ihn beschäftigt. Menschen, die dick sind, Menschen mit Behinderung, People of Color, die zuvor kaum vor Kameras saßen, haben dort mittlerweile eine große Reichweite und bekommen viel Zuspruch. Auf unserem TikTok-Kanal ›safespace‹ sprechen wir über mentale und körperliche Gesundheit aus junger Perspektive. Dabei ist mir besonders die Sichtbarkeit von queeren Menschen und vielfältigen Körperbildern wichtig. Auf TikTok geht es nicht nur um Unterhaltung, sondern auch um Bildung. Man tauscht sich über Erfahrungen aus, sammelt Informationen und reagiert auf Videos, so entsteht eine starke Community, die zusammenhält. Wir haben das Format sehr eng mit unserer Zielgruppe entwickelt, immer wieder fragen wir unsere Abonnentinnen und Abonnenten, was sie sich wünschen. Die Themen, die wir besprechen, können sehr intim sein. Wir möchten jungen Menschen zeigen, dass sie sich uns anvertrauen können, indem auch wir uns öffnen und über eigene Erfahrungen sprechen, egal ob es um Liebeskummer oder Körperhaare geht. Mir geht es genauso: Wenn ich im Netz sehe und höre, dass andere ähnliche Sorgen und Fragen haben, fühle ich mich bestätigt und merke: Ich bin gut, wie ich eben bin.«
Fotos: Felix Brüggemann (2), Eva Häberle, Thomas Pirot; Illustration: Vidam