Augenblick, verweile doch!
Mit der »Art Camera« lassen sich Bilder im Gigapixel-Bereich aufnehmen. Noch nie war Kunst dem menschlichen Auge näher. Noch nie ihr Abbild genauer
Das einzige Selbstporträt, das Gustav Klimt von sich gemalt hat, wird niemals im Original in einem Museum zu sehen sein. Es lässt sich von keiner Wand nehmen oder an eine hängen, weil es direkt auf eine gemalt wurde, genauer: an die Decke einer der beiden mächtigen Feststiegen im Wiener Burgtheater. Man muss also in die österreichische Hauptstadt fahren und eine Theaterkarte kaufen, um das Werk zu sehen – aus großer Entfernung, denn selbst von der Treppe aus betrachtet, ist es weit weg, dort oben in luftiger Höhe.
Neue Technik löst das Problem
Oder man geht ins Netz. Da kann man es sich nun anschauen, auf dem Computerbildschirm, aus nächster Nähe, in höchster Auflösung. Man kann hineinzoomen in die Gruftszene von Shakespeares Drama Romeo und Julia, in die Klimt sich hineingemalt hat, als Zuschauer einer von ihm imaginierten Inszenierung des Londoner Globetheaters: Da steht der junge Gustav Klimt, bei Vollendung der Deckenwerke 1887 gerade mal Mitte 20, und schaut versonnen auf »Romeo und Julia«, wie sie nebeneinander liegen, traurig vereint erst im Tod.
130 Jahre später hat »Google Arts & Culture« in Kooperation mit dem Burgtheater Wien das Deckengemälde abfotografiert, digitalisiert und ins Netz gestellt – zusammen mit den anderen neun Deckengemälden, die Gustav Klimt, dessen Bruder Ernst und Franz Matsch dort in der »neuen Burg« vor deren Eröffnung 1888 angefertigt haben. Diese speziellen Werke nun online verfügbar zu machen, damit jeder Mensch mit Internetanschluss sie anschauen kann, egal wo er lebt auf der Welt, sei schon »eine größere Herausforderung« gewesen, sagt Marzia Niccolai, Technical Program Manager des Google Cultural Institute und verantwortlich für die Digitalisierung von Kunstwerken. »Google Arts & Culture« gibt Institutionen die Möglichkeit, ihren Bestand optisch detailliert zu erfassen und online zu stellen. Immer mit der eindeutigen Zuteilung der Rechte – die bleiben beim jeweiligen Auftraggeber. Dabei geht es nicht nur um herausragende Werke der bildenden Kunst, sondern mittlerweile etwa auch um historische Kleidung oder Dinosaurierskelette. Museen auf der ganzen Welt haben schon von diesem Angebot Gebrauch gemacht und »Google Arts & Culture« zu sich eingeladen, um ihre Sammlungen zu digitalisieren. Inzwischen wurden mehrere Tausend hochaufgelöste Aufnahmen, sogenannte Gigapixel, erstellt und hochgeladen. Dafür wurde ein ganz spezielles Gerät entwickelt: die »Art Camera«. Die Aufnahmetechnik an sich sei gar nicht so außergewöhnlich, sagt Niccolai. Im Grunde sei das eine konventionelle Digitalkamera, vor die jedoch Objektive mit sehr hohen Brennweiten geschraubt werden, 300 bis 600 Millimeter, und die extrem nah auf die Kunstwerke zoomen. So können ultradetaillierte Aufnahmen erstellt werden, die zum Beispiel sogar die Struktur der Leinwand sichtbar machen, auf die ein Ölgemälde gemalt wurde: Ein Quadratmeter Kunstwerk besteht in der Google-Fotografie aus etwa einer Milliarde Pixel.
Die »Art Camera« ist in einen sogenannten Gimbal verschraubt, der vollautomatisch ein Gemälde oder, im Fall des Klimt-Werks, auch mal eine ganze Decke Stück für Stück abfährt. Das muss man sich vorstellen wie eine stabilisierende Aufhängung, die der Kamera eine dreidimensionale Bewegung ermöglicht, ohne dass es ruckelt oder holpert. Die »Art Camera« schießt softwaregesteuert systematisch Hunderte Detailfotos (für einen Quadratmeter Fläche braucht sie 20 bis 30 Minuten) und lädt diese in die Cloud hoch. Dann übernimmt, was Niccolai »die Google-Magie« nennt: eine weitere Software, die die unzähligen Detailfotos nach deren schärfsten Bildregionen absucht und diese dann zu einem Gesamtfoto zusammenfügt – einer farbgetreuen fotografischen Repräsentation des Kunstwerks.
Mittlerweile hat »Google Arts & Culture« laut Niccolai einige Dutzend seiner »Art Cameras« auf fünf Kontinenten im Einsatz. Die Fotos werden kostenlos gemacht, und zwar nicht nur zur eigenen Verwendung, sondern auch den Museen für deren eigenen Online-Plattformen frei zur Verfügung gestellt. Bei einem der frühesten Partner des Projekts, der National Gallery in London, seien sie bereits mehrfach zu Gast gewesen, sagt Niccolai. Mehr als 150 Werke aus der Sammlung einer der bedeutendsten Gemäldegalerien der Welt sind auf »Google Arts & Culture« mittlerweile online, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Malerei der Renaissance. Online sind diese Arbeiten entsprechend nicht nur nach ihren Erschaffern sortiert, sie sind beispielsweise auch zu Epochen gruppiert.
Zusammenbringen, was sonst nie zusammenkommt
Besonders spannend wird die Idee dieser Online-Plattform, wenn dort etwa Werkgruppen eines Künstlers zusammengestellt werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie wieder zusammen zur selben Zeit am selben Ort zu sehen sein werden – etwa die Serie von Porträts der Familie Roulin, die Vincent van Gogh in seiner Zeit in Arles 1888/1889 gemalt hat. Mehr als 10 Arbeiten aus der Gruppe sind bereits auf »Google Arts & Culture«, die Originale hängen heute verstreut, unter anderem in Amsterdam, Rotterdam, Otterlo, Essen, New York und Los Angeles. Allein die Höhe der potenziellen Versicherungssumme dürfte verhindern, dass die Bildnisse von Joseph, Augustine, Armand, Camille und Marcelle Roulin jemals wieder zusammen ausgestellt werden. Auf »Google Arts & Culture« kann man sie als Nutzer einfach nebeneinanderstellen und etwa in die dort vorhandenen Porträts des Familienvaters Joseph hineinzoomen, um van Goghs Farbpalette und die Maltechnik genauer zu studieren.
Die »Art Camera«, sagt die Programmverantwortliche Marzia Niccolai, sei in erster Linie ein technisches Instrument, das den eigentlichen Zielen des Google Cultural Institute Lab diene: »Wir wollen Menschen auf der ganzen Welt Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen – und wir möchten Museen Hilfestellung dabei leisten, ihre Sammlungen zu digitalisieren.« Es gebe so viel großartige Kunst, doch hätten halt nicht alle Menschen die Möglichkeit, zu Museen zu reisen und diese Werke direkt zu betrachten.
Wobei man, wie das Beispiel der Deckengemälde in der Wiener »Burg« besonders gut zeigt, oftmals physisch gar nicht nah herankommt an die Werke. Auch Kunsthistoriker, sagt Niccolai, könnten nun dank der Gigapixel-Fotos zum ersten Mal diese Arbeiten in allen Details betrachten. Am Bildschirm. Die Herausforderung habe im Übrigen bei den Aufnahmen darin bestanden, die »Art Camera« erst mal entsprechend ausgerichtet zu bekommen, um gleichsam über Kopf fotografieren zu können. »Und bei der Erstellung der Gesamtaufnahmen musste die Software dann den Aspekt mitberechnen lernen, dass Decken im Gegensatz zu Leinwänden keine ebenen Flächen sind, sondern gewölbt – entsprechende Verzerrungen müssen herausgerechnet werden, um die Aufnahmen dann auf einer ebenen Fläche darzustellen.«
Konservierung für die Nachwelt
Niccolai ist es wichtig, dass man das Projekt nicht missversteht. Es wurde nicht mit dem Ziel gestartet, die Kunsthistorie systematisch aufzubereiten für unsere Epoche der Digitalisierung. Die Logik ist eher die, der Google letztlich auch als Suchmaschine stets gefolgt ist: Je mehr hinzukommt, desto weniger Lücken gibt es. Alles nur eine Frage der Zeit, der Masse und der Sortierung. Die Vergangenheit, aufbewahrt in unendlich vielen Ausstellungsräumen, Archiven und Sammlungen, hält jedenfalls genug Arbeit für die Zukunft von »Google Arts & Culture«. Und das Schöne an der Kunst ist ja auch: Sie hört nie auf. Jeden Tag werden neue Werke produziert. Von denen man wiederum neue, hochaufgelöste Fotos machen kann. Der Nachwelt zuliebe.
Fotografie: Stephanie Füssenich