Vom Wissen zum Handeln
Die Erderwärmung und die Corona-Pandemie sind zwei der großen Krisen unserer Zeit – und bei beiden Ereignissen spielen Daten und ihre Analyse eine erhebliche Rolle. Klimaforscherin Ricarda Winkelmann und Virologin Melanie Brinkmann beschreiben, was es heißt, wenn die eigene Arbeit zur Grundlage politischer Entscheidungen wird
Wenn Melanie Brinkmann und Ricarda Winkelmann die Ergebnisse ihrer Forschung publik machen, hört die Politik genau hin: Ricarda Winkelmann ist Professorin für Klimasystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Medien auf der ganzen Welt berichteten kürzlich über eine Studie, in der sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen herausgefunden hat, dass bei fortschreitender Erderwärmung in der Antarktis selbstverstärkende Prozesse angestoßen werden. Bei anhaltenden Temperaturen von 4 Grad über dem vorindustriellen Niveau könnte dies allein aus der Antarktis langfristig zu einem Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 6 Meter führen. Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker rund um den Globus schlugen daraufhin Alarm.
Melanie Brinkmann ist Professorin mit dem Schwerpunkt »Virale Infektionen und Wirkstoffe« an der Technischen Universität Braunschweig und leitet eine Arbeitsgruppe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Nachdem sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen erforscht hatte, auf welchen Wegen sich das Coronavirus unter den Beschäftigten einer großen Fleischfabrik ausgebreitet hatte, wurden die Hygieneauflagen in der Produktion verschärft. Die Behörden und Berufsgenossenschaften änderten daraufhin ihre Regeln.
Politikerinnen und Politiker im ganzen Land forderten, die Belüftung und Aerosole mehr in den Blick zu nehmen, damit es nicht in weiteren deutschen Fleischfabriken und darüber hinaus zu ähnlichen Ausbrüchen kommt.
Leitplanken für Entscheidungen
Ricarda Winkelmann und Melanie Brinkmann sind zwei von Hunderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die dazu beitragen, die Gesellschaft durch zwei der größten Krisen unserer Zeit zu navigieren. Denn globalen Herausforderungen wie der Klimakrise und der Corona-Pandemie begegnet die Menschheit heute mit Erkenntnissen aus Datenanalysen: Wie wird sich der Meeresspiegel in Abhängigkeit von der Temperatur auf der Erde verändern? Wie hoch ist die Sieben-Tage-Inzidenz der Corona-Neuinfektionen? Wie viele Meter müssen wir voneinander Abstand halten, um niemanden anzustecken für den Fall, dass wir selbst mit dem Coronavirus infiziert sind? Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus wissenschaftlichen Arbeiten sind vielerorts zu Leitplanken für politische Entscheidungen in globalen Ausnahmesituationen geworden.
In der Klimakrise war es ein langer Weg, ehe Daten zu konkreten Handlungen führten. Obwohl die Forschung seit Jahren vor den Folgen von CO2-Emissionen und der daraus folgenden Erderwärmung warnt, tat sich die Politik schwer, schärfere Maßnahmen wie etwa eine Bepreisung der CO2-Emissionen zu beschließen. Lange Zeit schienen die Konsequenzen vieler wissenschaftlicher Szenarien viel zu weit in der Zukunft zu liegen.
Forschung im Eiltempo
Ganz anders während der Corona-Pandemie, deren Auswirkungen täglich spürbar werden: Politische Entscheidungen stützen sich häufig auf Daten, die erst kurz zuvor erhoben wurden. Virologin Melanie Brinkmann sieht das durchaus kritisch: »Es gab in jüngster Zeit Studien, bei denen ich gedacht habe: Wenn wir uns nicht gerade mitten in einer Pandemie befänden, wäre das so nie publiziert worden.« Forschungsergebnisse, die im Normalfall von mehreren Fachleuten geprüft werden, erscheinen laut Brinkmann nun deutlich schneller. Für Wissenschaft wie Politik ist das keine einfache Situation: Zum einen müssen Politikerinnen und Politiker möglichst schnell Entscheidungen treffen. Zum anderen können die beschlossenen Maßnahmen nur wirken, wenn die Daten, auf denen sie basieren, belastbar sind.
Als Melanie Brinkmann den Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik nachvollzogen hatte, erlebte sie selbst den Druck, dem die Corona-Forschung momentan ausgesetzt ist. »Ich habe das als Wahnsinnsverantwortung empfunden und hatte schlaflose Nächte, weil ich in Sorge war, dass wir etwas übersehen oder einen Fehler machen könnten.« Dass ihre Arbeit derart in der Öffentlichkeit steht, erlebte Brinkmann in jener Zeit zum ersten Mal. Die Virologin erzählt aber auch, dass ihr diese Arbeit besonders viel Kraft und Energie gegeben habe, weil sie das Gefühl hatte, einen wichtigen Beitrag zur Pandemiebekämpfung zu leisten.
Klimaforscherin Ricarda Winkelmann suchte sich ihr Fachgebiet, zu dem unter anderem die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis gehören, auch aufgrund der Relevanz des Themas aus: »Durch unser Handeln greifen wir Menschen stärker denn je ins Erdsystem ein – und sind in diesem neuen Zeitalter, dem Anthropozän, damit zur bestimmenden Kraft geworden. Wie unser Erbe an zukünftige Generationen aussieht, hängt auch entscheidend davon ab, wie sich beispielsweise die Treibhausgasemissionen entwickeln – und das haben wir durch unser Verhalten selbst in der Hand.«
Winkelmann ist froh, dass die politischen Klimaziele langsam ambitionierter werden und die EU mit dem »Green Deal« beschlossen hat, bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu werden. »Aber wir müssen noch viel ehrgeiziger werden, damit auch nachfolgende Generationen in Sicherheit leben können«, sagt sie. Ein Ruck in der Politik, wie ihn die Gesellschaft in der Bekämpfung der Corona-Pandemie erlebt, ist im Kampf gegen die Klimakrise bislang ausgeblieben. Gleiches gilt für die Bereitschaft, erfolgversprechende Maßnahmen ohne großes Zögern umzusetzen. Hier sieht Ricarda Winkelmann Politikerinnen und Politiker in der Verantwortung: »Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Folgen des Klimawandels zu beleuchten und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Über konkrete Maßnahmen entscheiden letztlich aber Politik und Gesellschaft.«
Während sich Ricarda Winkelmann beispielsweise mit mathematischen Modellen zur Simulation der Eisdynamik und des Meeresspiegelanstiegs beschäftigt, dreht sich Melanie Brinkmanns Alltag überwiegend um die Erforschung von Herpesviren, ihrem eigentlichen Fachgebiet. Vor Ausbruch der Pandemie gab es weltweit nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die überhaupt an Coronaviren forschten. »In den vergangenen Monaten haben dann viele Kolleginnen und Kollegen aus der Virologie und auch aus anderen Fachbereichen damit begonnen, sich zusätzlich mit Coronaviren zu beschäftigen«, erklärt Brinkmann. Zwei Doktoranden forschen in ihrem Auftrag nun weiter zu dem Covid-19-Erreger und widmen sich der Frage, mit welchen Automatismen der menschliche Körper versucht, das Virus zu bekämpfen.
Beide Wissenschaftlerinnen sagen, dass sie durch ihre Neugierde in die Forschung fanden und durch den Wunsch, große und komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Keiner von beiden kam einst der Gedanke, dass ihre Arbeit einmal Grundlage für politische Entscheidungen werden könnte. Ricarda Winkelmann ist inzwischen überzeugt, dass sich aus der Corona-Pandemie Schlüsse ziehen lassen, die auch auf die Klimakrise übertragbar sind: »Beide Krisen sind generationenübergreifend, beide sind global. Sie zeigen, wie eng vernetzt wir auf der Welt inzwischen leben. Beide Krisen können deshalb auch nur global gelöst werden.«
Fragt man Melanie Brinkmann, was sie in den Monaten der Corona-Pandemie gelernt hat, lautet eine Antwort: »Demut«. Sie hat außerdem erfahren, wie schwierig, aber auch wie wichtig gute Kommunikation ist; dass man keine Angst davor haben darf zu sagen, dass man etwas nicht weiß – auch wenn das Bedürfnis nach Antworten riesig ist. Zu Beginn der Pandemie wurde die Virologin in Interviews gefragt, wann mit einem Impfstoff zu rechnen sei. »Ich habe damals gesagt, dass es ein bis zwei Jahre dauern wird, weil ich gerne etwas Positives sagen wollte«, erinnert sich Brinkmann. »Tatsächlich lag ich gar nicht so falsch. Aber eigentlich hätte ich sagen müssen: Ich habe keine Ahnung, und darauf kann Ihnen auch zu diesem Zeitpunkt niemand eine seriöse Antwort geben.«
Fotos: Felix Brüggemann, Felix Adler