Wir haben zusammengefunden
Was vermag ehrenamtliches Engagement? Wir haben Gewinner der vergangenen Google Impact Challenge besucht – und Menschen getroffen, deren Leben sich veränderte. Vier Geschichten über einschneidende Erfahrungen und neue Freundschaften
In den zwei Monaten vor dem Motorrad-Wochenende redet Rolf Zimmer von nichts anderem mehr: In seinem Zimmer kleben Fotos von ihm in einem Motorrad-Beiwagen. In seinem Schrank hängt eine Biker-Jacke, seinen Helm poliert er immer wieder. Rolf Zimmer, 44, hat das Downsyndrom. Alleine könnte er nicht Motorrad fahren: Er lebt in einem Wohnheim in Xanten in Nordrhein-Westfalen und arbeitet tagsüber in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Seit 15 Jahren fährt Rolf beim Unternehmen Zündkerze mit. Der Verein aus dem Nachbarort Sonsbeck organisiert seit 18 Jahren jeden Sommer eine Beiwagentour für Menschen mit Behinderung. Und seit 15 Jahren ist Rolf Zimmer Christoph Meiselbachs Beifahrer. »Ist Christoph dabei?« Fast jeden Tag stellt Rolf seiner Betreuerin im Wohnheim in den Wochen vor dem Motorradtreffen diese Frage.
Christoph Meiselbach, 37, arbeitet als Business- und Finanzcoach in Düsseldorf und fährt Motorrad seit er 18 ist. Nach dem Abitur absolvierte er seinen Zivildienst bei der Initiative »Integratives Leben« in Sonsbeck, die 1999 die erste Rundfahrt organisierte. (Erst später wurde aus dem Unternehmen Zündkerze ein eigener Verein.) Christoph Meiselbach war von Beginn an mit seiner Ural dabei. Auch in den fünf Jahren seiner Promotion in Heidelberg fuhr er immer (mit einem Jahr Ausnahme) die rund 350 Kilometer nach Sonsbeck. 4,5 Stunden einfach dauert die Reise – das Motorrad fährt nicht schneller als 100 Kilometer in der Stunde und hat eine Dauergeschwindigkeit von rund 80 bis 90 km / h.
Er hat vor Freude geweint, als ich auftauchte
Christoph Meiselbach Unternehmen Zündkerze
»Beim Treffen in Sonsbeck wissen alle, dass der Platz in meinem Beiwagen schon vergeben ist«, sagt Christoph Meiselbach. Schon wenn er auf dem Parkplatz vorfährt, schreit Rolf laut »Christoph« über den Platz und läuft ihm entgegen. Später sitzt er jubelnd im Seitenwagen. »Rolf und ich haben uns im ersten Jahr schon gut verstanden«, sagt Christoph Meiselbach. Rolf vertraut Christoph. »In manchen Jahren gab es Gewitter, dann musste ich ihn beruhigen.« Rolf kann sich aufgrund seiner Einschränkung nur mühsam mit Worten artikulieren, was ihn nicht davon abhält, sich freundlich mit jedem zu unterhalten. Unser Zusammentreffen ist unglaublich ehrlich und direkt, wie mit einem Kind. Erwachsene sind viel zurückhaltender«, sagt Meiselbach. »Er läuft auf mich zu und fällt mir in die Arme, und zeigt mir, wie glücklich ich ihn mache. Das gibt auch mir ein gutes Gefühl.«
Rolf und Christoph sehen sich höchstens zwei Mal im Jahr, trotzdem hat sich zwischen beiden eine Freundschaft entwickelt. »Einmal habe ich ihn an seinem Geburtstag besucht. Er hat vor Freude geweint, als ich auftauchte«, sagt Christoph. In zwei Wochen steht Rolfs 45. Geburtstag an. Christoph ist eingeladen, sagt Rolf und fügt hinzu: »Rolf ist glücklich.«
Gemeinsam gegen Online-Mobbing: Bei den „Digitalen Helden“ werden Schüler zu Mentoren ihrer Mitschüler. Ein Programm, von dem auch Lehrer profitieren
»Wenn du das nicht weiterschickst ...«: Mit diesen Worten beginnen viele Kettenbriefe, die auf Facebook und WhatsApp kursieren. »Fünft- und Sechstklässler nehmen das teilweise sehr ernst«, sagt Isabell Braun, 35, Englisch- und Französischlehrerin am Johanneum Gymnasium im hessischen Herborn. »Da gibt es Challenges, bei denen man gefährliche Mutproben bestehen soll – und Eltern und auch wir Lehrer bekommen dies in den seltensten Fällen mit.«
Medienbildung ist Teil des Lehrplans, und Isabell Braun bekommt im Fremdsprachenunterricht auch viel mit, was ihre Schüler bewegt. »Doch Probleme wie solche Kettenbriefe oder Online-Mobbing haben im normalen Fachunterricht wenig Raum«, sagt Isabell Braun. Sie nimmt deshalb am Programm der Digitalen Helden teil, in dem Schüler der achten bis zehnten Klassen als Mentoren ausgebildet werden. Sie sollen ihren Mitschülern Orientierung im Umgang mit digitalen Medien geben. Isabell hat an ihrer Schule eine AG ins Leben gerufen. Seit einem Jahr treffen sich jeden Montag in der achten und neunten Stunde 15 Schüler und diskutieren zum Beispiel, ob man Fotos von Mitschülern auf Instagram posten darf, ohne sie vorher zu fragen. Sie sprechen über sichere Passwörter oder sehen sich Videos über Online-Mobbing an. Unter den Teilnehmern der AG ist auch Sarah, 15, aus der neunten Klasse. Mit Mitschülern aus der AG besucht sie regelmäßig Fünftklässler im Unterricht und gibt weiter, was sie von Isabell Braun und den Digitalen Helden gelernt hat.
Ich verstehe meine Schüler seitdem besser
Isabell Braun Lehrerin
»Die Jüngeren erzählen oft, dass sie die WhatsApp-Klassengruppe, in der Hausaufgaben verschickt werden, nervig finden, weil manche zu häufig schreiben«, sagt Sarah. Viele hätten schon Kettenbriefe bekommen. »Ich sage dann immer: einfach löschen und nicht weiterschicken. An unserer Schule hat sich der Rat schon herumgesprochen.« Sarah ist selbst froh um den Austausch in der AG und bleibt dafür gern länger in der Schule: »Wenn ich ein Problem habe, fällt es mir leichter, es in der AG anzusprechen, da ich weiß, dass sich meine AG-Lehrer damit auskennen und mir weiterhelfen können.«
Integration funktioniert nur dort, wo Menschen miteinander ins Gespräch kommen: Ein Freiburger Projekt vermittelt deshalb Essensverabredungen
Wenn Esther Muschelknautz, 55, mit Muaz, 34, durch Freiburg geht, kann es passieren, dass sie alle paar Meter stehen bleiben müssen, weil Muaz Leute begrüßt, umarmt oder ein paar Worte mit ihnen wechselt. Früher sah Muaz’ Leben anders aus. 2012 kam er aus Syrien nach Deutschland und lebte zunächst isoliert in einem Asylbewerberheim am Rande der Stadt. Er blieb für sich, ging nicht raus, verbrachte seine Tage mit Warten. »Mir war eigentlich immer langweilig«, sagt er heute über diese Zeit.
Im Asylbewerberheim erzählte ihm ein Bekannter von zusammen essen, einer Webseite, über die Einheimische Flüchtlinge zum Essen einladen. »Ich dachte eigentlich, dass sich kein Deutscher mit einem Flüchtling abgeben will«, sagt Muaz. Trotzdem sah er sich die Angebote auf der Webseite durch und blieb bei Esther Muschelknautz’ Anzeige hängen: Sie bot Kaffee und Kuchen und Quatschen an einem Sonntagnachmittag an. Muaz meldete sich an. Beim ersten Stück Schwarzwälder Kirschtorte seines Lebens sprach er zum ersten Mal außerhalb des Heims mit einer Einheimischen. Erst auf Englisch, weil sein Deutsch damals noch nicht so gut war. Die Deutsche und der Syrer sprachen über Katzen und Musik, Muaz blieb drei Stunden. In der folgenden Woche gingen sie zusammen ins Tierheim, um eine Katze für Esther auszusuchen. Sie verfolgten den Stadtmarathon und besuchten einen Flohmarkt in einem Altersheim, in dem Muaz seitdem einmal pro Woche ehrenamtlich mithilft. Außerdem singt er inzwischen in einem europäisch-arabischen Chor.
Ich merke jedes Mal, dass er noch ein Stück mehr ankommt
Esther Muschelknautz zusammen essen, denken & leben
»Für mich war dieser Nachmittag ein Neuanfang«, sagt Muaz. Und auch für Esther, die beruflich an der Universität Freiburg Studiengänge koordiniert, war es ein Einschnitt. »Ich wollte mich schon länger engagieren«, sagt sie heute. »Bei den Treffen mit Muaz merke ich jedes Mal, dass er noch ein Stück mehr in Deutschland ankommt.« Wenn Esther Muschelknautz die Lokalzeitung aufschlägt, schaut ihr manchmal Muaz entgegen. »Er ist inzwischen fast stadtbekannt«, sagt sie, »vor allem, seit er im April in der Kirche ein Solo sang, einen Muezzingesang aus seiner Heimat.« Zwei Jahre kennen sich die beiden. Esther ist fast so etwas wie eine Mutterfigur für Muaz geworden. Sie ermahnt ihn, wenn er mal den Deutschkurs versäumt. Sie erinnert ihn daran, endlich die Anträge für sein Stipendium auszufüllen – Muaz will Ethnologie studieren. »Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zu Esther«, sagt er. Anders als mit den Mitarbeitern von Sozialamt oder Universität kann Muaz mit Esther auch über Persönliches, über Frauen oder seine Familie in Syrien sprechen. »Wir haben ein sehr vertrautes Verhältnis“, sagt Esther Muschelknautz. »Er spricht sehr offen über sich, seine Selbstzweifel, Ängste und Träume. Das tut uns beiden gut.«
Berufliche Weiterentwicklung, die anderen nutzt: Ein Berliner Verein bringt soziale Projekte mit engagierten und talentierten Designern zusammen
Anina Wäsche war auf der Suche nach einem Thema für ihre Bachelorarbeit in Kommunikationsdesign, als sie sich Anfang 2016 auf der Webseite von youvo umsah. Der Berliner Verein vernetzt soziale Organisationen mit jungen Kreativen, die Hilfe bei Design und Öffentlichkeitsarbeit bieten. Anina las von der interkulturellen Bildungsinitiative »Yaylas Wiese«, knüpfte Kontakt – und machte sich an die Arbeit.
Dank Anina sind wir heute weiter
Anne Peters Lerninitiative Yaylas Wiese
»Anfangs war das Erscheinungsbild von Yaylas Wiese vor allem bunt und unübersichtlich. So wurden das Wesen des Vereins und dessen Projekte nicht klar kommuniziert«, erinnert sich Anina Wäsche. »Insgesamt war alles viel zu verspielt.« Ein halbes Jahr lang hielt die Designerin Workshops im Büro von Yaylas Wiese ab und erarbeitete mit Lehrerin und Initiatorin Anne Peters ein neues Kommunikationskonzept. Anina Wäsche entwarf ein Corporate Design mit passenden Farben und Schriften, sie gestaltete ein Logo, die Webseite und Werbematerial wie Flyer, Bleistifte und Notizbücher. Die nötigen Texte formulierte man zusammen. »Für uns ein wichtiger Impuls, unsere Botschaft besser auf den Punkt zu bringen«, erinnert sich Anne Peters. »Oft haben soziale Organisationen leider kein Geld für professionelles Design und digitale Herausforderungen«, sagt Paula Bergmann von youvo. Auch Yaylas Wiese hätte es sich nicht leisten können, einen Designer zu beauftragen. »Dafür haben wir null Budget«, sagt Anne Peters. Für sie war die Unterstützung ein »großes Geschenk«, von dem auch Anina Wäsche selbst profitierte: Ihre Bachelorarbeit wurde mit 1,3 bewertet. Die Zusammenarbeit war damit noch nicht beendet. Anina Wäsche engagiert sich heute neben ihrem Job in einer Werbeagentur ehrenamtlich bei Yaylas Wiese. »Ich versuche, immer noch zu helfen, wo ich kann“, sagt Anina Wäsche. Mal gestaltet sie, mal berät sie. »Anders als bei der Arbeit für große Firmenkunden, erlebe ich hier unmittelbar, was ich bewirke.«
Die Initiatoren sind froh über das Engagement. »Unser Angebot war professioneller, als es der Internetauftritt vermuten ließ«, sagt Anne Peters. »Dank Anina sind wir da heute weiter.«
Fotografie: Thekla Ehling (Zündkerze), LÊMRICH (Digitale Helden), Anne-Sophie Stolz (zusammen essen), Andreas Lux (youvo)