Die ganze Welt zum Greifen nah
Mithilfe der Virtual Reality können Schüler entfernte Orte und vergangene Zeiten erkunden. Die Technik wird das Lernen nachhaltig verändern
Auf einmal schaut einem der Giraffatitan direkt ins Gesicht. Freundlich guckt er mit seinen großen braunen Augen, er ist ja glücklicherweise auch ein Pflanzenfresser. Die kleinen, zapfenförmigen Zähne sehen in seinem Maul trotzdem ein bisschen beunruhigend aus. So wie es generell beunruhigend ist, wenn einem ein über 13 Meter hoher Dinosaurier auf einmal nahekommt. Zum Glück wendet der Giraffatitan sich ab und reißt statt des Kopfs des Betrachters röhrend eines der Banner von der Wand des Berliner Museums für Naturkunde. Lieber ein wenig zur Seite gehen. Ist zwar Virtual Reality (VR), aber man weiß ja nie so genau.
Das Video mit dem Giraffatitan aus dem Berliner Naturkundemuseum gibt es seit September 2016 und wurde bereits rund 700.000 Mal geklickt. »Die Reaktionen auf die Virtual-Reality-Videos sind überwältigend. Besonders der Film zu unserem Giraffatitan hat ein großes, internationales Presseecho ausgelöst und eine tolle Resonanz gefunden«, sagt Museumsleiter Professor Johannes Vogel. Gemeinsam mit vielen weiteren Partnern aus aller Welt ist das Naturkundemuseum Teil des »Google Arts & Culture«-Programms, das Geschichten und Sammlungen global digital verfügbar machen will. Alles, was man dafür braucht, ist ein Gerät mit Internetzugang. Eine App gibt den Überblick dazu, welche Kulturorte bereits ins Programm aufgenommen wurden, alle Videos sind auf YouTube verfügbar. Das Berliner Naturkundemuseum kann man mittlerweile virtuell in einem 360-Grad-Video besuchen: Was sonst hinter Vitrinentüren oder Absperrungen steht, erwacht online zu neuem Leben – wie eben unter anderem der Giraffatitan. Wer ein Google Cardboard besitzt, kann die Videos sogar in 3-D anschauen. Die einfache, mit zwei Linsen ausgestattete Pappbrille gibt es im Netz zu kaufen.
Den Museumsbesuch können und sollen solche Videos natürlich nicht ersetzen. Sie sollen dazu anregen, sich die Exponate auch einmal in der Realität anzuschauen, sagt Museumsleiter Vogel. »Spielerisch gestaltete und visuell ansprechende VR-Videos können eine junge, onlineaffine Zielgruppe begeistern und gleichzeitig für aktuelle naturkundliche Themen und Fragestellungen sensibilisieren, wie beispielsweise Artenvielfalt und Evolution. Als technisch kompetenter Ansprechpartner vernetzt ›Google Arts & Culture‹ das Museum mit Partnerinstitutionen auf der ganzen Welt.« Das Programm öffnet und verbindet bedeutende Orte und Museen – vom American Museum of Natural History in New York bis zum Louvre in Paris oder den Pyramiden in Ägypten. Wer auch online lieber im Land bleiben möchte, für den öffnet das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main oder das Erlebnis-Bergwerk Velsen im Saarland seine Pforten. Insgesamt gibt es in der »Expeditions-Bibliothek« von Google rund 1000 Exkursionen, mit denen Schüler virtuelle Klassenreisen unternehmen können. Die einen »wandern« entlang der Chinesischen Mauer, die anderen »tauchen« am Great Barrier Reef oder »fliegen« zum Mond. Aber auch Reisen in den menschlichen Körper sind möglich: Eine Google-»Expedition« entführt sogar ins menschliche Herz.
Die Kinder hängen an ihren Telefonen. Warum sollten sie sie nicht zum Lernen nutzen?
Caroline Frey Grundschullehrerin in Berlin
Die Lehrerin Caroline Frey unternahm gemeinsam mit ihrer sechsten Klasse der Schweizerhof-Grundschule in Berlin im Klassenzimmer eine »Expedition« nach Frankfurt. Unter ihrer Anleitung besuchten die Schüler mithilfe von Smartphones und Cardboards das Senckenberg Naturmuseum. Caroline Frey steuerte vom Lehrerpult aus, welche Objekte gemeinsam angeschaut wurden. »Ich sah die Klasse als Ansammlung kleiner Smileys auf dem Display. Wenn ich etwas erklärte, haben tatsächlich alle geguckt«, erzählt Frey. Den Kindern hat der Ausflug gefallen. »Ich selbst dachte in Anbetracht der Cardboards ja erst ›Ach Gottchen, das ist schon eine simple Technik!‹ Umso begeisterter war ich dann, wie viel man damit erleben kann.« Auf die Frage, ob die Elf- bis Zwölfjährigen die Technik denn sofort hätten bedienen können, lacht Caroline Frey laut los. »Die Kinder hängen so oft an ihren Telefonen, das ist für die gar kein Problem. Warum also sollten sie sie nicht auch zum Lernen benutzen?«
Genau diese Beobachtung, dass insbesondere junge Menschen intuitiv mit moderner Technik umgehen, beschäftigt auch Ulrich Kortenkamp. An der Universität Potsdam leitet Professor Kortenkamp das Projekt »Digitales Lernen Grundschule«, das Konzepte für den Einsatz von digitalen Werkzeugen im Schulunterricht entwirft und untersucht. »Schule ignoriert oft die Realität. In manchen Bereichen ist das auch richtig so«, sagt Kortenkamp. »Nur so lassen sich geschützte Räume schaffen, in denen Kinder sich ausprobieren können.« Mit Blick auf das Internet findet der Wissenschaftler das Vorgehen vieler Schulen allerdings weltfremd. »Studien zeigen, dass heute nahezu jedes zwölfjährige Kind in Deutschland ein eigenes Smartphone und Internetzugang hat. Den Kindern dann zu sagen ›Ihr dürft da aber nicht draufschauen, um etwas zu recherchieren‹, entspricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit«, sagt Ulrich Kortenkamp.
Deshalb ist es aus Sicht des Potsdamer Professors auch so wichtig, nicht nur die Schüler, sondern auch Lehrer fit für das digitale Lernen zu machen. Das wiederum gelinge nur, wenn der Einsatz von Technik für alle einen eindeutigen Mehrwert habe. Als Professor für Didaktik der Mathematik fallen Kortenkamp vor allem Beispiele aus dem Bereich Zahlenverständnis ein. »1/10 konnten wir mithilfe von Bauklötzen noch vermitteln. Bei 1/100 wird es bereits schwierig. Virtuell ist das hingegen kein Problem«, sagt Kortenkamp. Eine App, die Mengenverhältnisse virtuell darstelle, wäre entsprechend ein Mehrwert für Lehrer und Schüler. Auch mit Augmented Reality (AR) und Virtual Reality wird in Kortenkamps Projekten bereits experimentiert: etwa mit Schulbuchseiten, die plötzlich zum Leben erweckt werden, oder mit Würfeln, die sich vor den Augen der Schüler auseinander- und wieder zusammenfalten. »Es bringt aber nichts, Kinder einfach an einer App spielen zu lassen, ohne dass die Lehrerin oder der Lehrer didaktisch eingreifen kann, zum Beispiel zur Erklärung oder um neue Lernprozesse anzustoßen.« Für einen maximalen Lernerfolg plädiert auch Kortenkamp stets für eine Verknüpfung von Realität und Virtualität.
Caroline Frey von der Schweizerhof-Grundschule nimmt sich diesen Rat zu Herzen. Nach der virtuellen Expedition ins Senckenberg Museum besuchte sie mit den Kindern das Naturkundemuseum Berlin. Die Klasse betrachtete die Dinosaurierskelette und verglich sie mit den VR-Filmen. »Für Kinder ist ein richtiger Ausflug natürlich das Schönste. Aber nach Ägypten zu den Pyramiden oder nach Frankfurt können wir nicht mal eben fahren. Deshalb ist es so, in der Kombination, ein super Erlebnis.«
Das Naturkundemuseum Berlin wird mit Virtual Reality auf völlig neue Weise erfahrbar. Mehr dazu auf www.naturkundemuseum.berlin.
Fotos: Stefan Höderath / Google Arts & Culture (2), Antje Dittmann / Museum für Naturkunde; Screenshot: Google