Ein völlig neuer Rechner
Die Herausforderungen der Gegenwart verlangen nach immer leistungsfähigeren Rechnern. Deshalb erforschen der deutsche Physiker und Informatiker Hartmut Neven und sein Team bei Google den Bau eines universellen Quantencomputers. Die Geschichte eines Meilensteines der Physik- und Computergeschichte
Der 23. Oktober 2019 wird als ein besonderer Tag in die Computergeschichte eingehen. Google gab bekannt, dass ein Forscherteam in Googles Quantum Artificial Intelligence Lab in Kalifornien einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einem universell einsetzbaren Quantencomputer erreicht hat, die sogenannte Quantenüberlegenheit: Ein im Labor entwickeltes Quantencomputer-Modell erledigte erstmals in einem Experiment eine speziell dafür modellierte mathematische Aufgabe, die ein klassischer Supercomputer nicht oder nur sehr viel langsamer berechnen kann.
Weltweit arbeiten viele Forschungszentren und Industrieunternehmen am Traum eines universell einsetzbaren Quantencomputers – neben Google unter anderem IBM und Microsoft, aber auch europäische Start-ups wie AQT aus Österreich, IQM aus Finnland oder OpenSuperQ als europäisches Forschungsprojekt. Wissenschaftler aus Deutschland spielen auf dem Gebiet ebenfalls wichtige Rollen. So waren das Forschungszentrum Jülich und die Universität Erlangen-Nürnberg Teil des weltweiten akademischen Teams, das an Googles Quantenüberlegenheits-Experiment teilnahm. Entscheidend vorangetrieben wurde die Entwicklung in den vergangenen Jahren vom deutschen Physiker und Informatiker Hartmut Neven, Gründer des Quantum Artificial Intelligence Lab. Doch ehe wir mehr von Neven und seiner Geschichte erfahren: Was ist ein Quantencomputer? Was unterscheidet ihn von herkömmlichen Computern?
Alle Vorhaben, in denen künstliche Intelligenz Verwendung findet, brauchen starke Computer.
Das autonome Fahren zum Beispiel. Wenn nachts bei Tempo 100 auf der Bundesstraße ein Reh den Weg eines autonom fahrenden Autos kreuzt, zählt beim Bremsen jeder Sekundenbruchteil. Der Computer muss das Tier möglichst schnell erkennen und die richtigen Schlüsse ziehen. Hartmut Neven fängt an, sich mit den Möglichkeiten des Quantencomputers zu befassen. Und hier beginnt der schwierige Teil dieser Geschichte: Was ist eigentlich ein Quantencomputer?
Die Computerchips, die heute in Laptops oder Smartphones arbeiten, speichern oder verarbeiten jede Zahl, jedes Wort, jeden Punkt eines Bildes als Kombination der Ziffern 0 und 1. Wie das geht? Auf jedem Chip gibt es viele sogenannte Bits. Jedes Bit kann man sich wie einen klitzekleinen Schalter vorstellen, der abhängig von seiner Position den Wert 0 oder 1 annehmen kann.
Im Lauf der Jahrzehnte wurden die Transistoren auf Computerchips immer kleiner gebaut – auf aktuellen Chips befinden sich viele Milliarden von ihnen. Mit einer Größe von weniger als zehn Nanometern (der Durchmesser eines menschlichen Haares beträgt 100 000 Nanometer) sind sie inzwischen so klein, dass die Grenzen des physikalisch Machbaren erreicht werden.
Deshalb forschen Physiker schon geraume Zeit an einem ganz anderen Typ von Rechner: Quantencomputer folgen der Theorie der Quantenmechanik und haben beinahe unglaubliche Eigenschaften; ihre Bits, die sogenannten Quantum-Bits oder kurz Qubits, können eine sogenannte Superposition einnehmen. Sie können zugleich den Wert 0 oder 1 annehmen und auch parallel mit diesen Werten rechnen.
Ein Beispiel deutet an, was Qubits vermögen: Zwei herkömmliche Bits können gemeinsam nur eine der folgenden vier Kombinationen einnehmen: 0-0, 1-1, 0-1 oder 1-0. Zwei Qubits hingegen können wegen ihrer quantenmechanischen Fähigkeiten alle vier Zustände zur selben Zeit einnehmen. Vier Qubits können so die Zustände von 16 Bits abbilden, 20 Qubits könnten bereits die potenziellen Zustände von mehr als einer Million Bits einnehmen. Die Rechenkraft der Qubits steigt durch ihre Superpositionsfähigkeit exponentiell.
Hartmut Neven und sein Team in Googles Quantum Artificial Intelligence Lab haben nun einen Quantencomputer gebaut, in dem 54 solcher Qubits zusammengeschaltet wurden. Das ist eine technische Herausforderung, Qubits »rechnen« nämlich nur dann richtig, wenn sie nicht gestört werden. Der Quantencomputerchip im kalifornischen Labor muss deshalb sehr aufwendig vor störenden äußeren Einflüssen geschützt werden. Und es sind komplexe Laboraufbauten zum Betrieb notwendig: Der Chip, auf dem die 54 Qubits sitzen, muss fast bis auf den absoluten Nullpunkt bei minus 273 Grad gekühlt werden, um die für den Betrieb nötige Supraleitfähigkeit zu erreichen.
Die Qubits rechnen nur dann richtig, wenn sie nicht gestört werden.
Ein Beispiel deutet an, was Qubits vermögen: Die zwei herkömmlichen Bits 0 und 1 können gemeinsam nur eine der folgenden vier Kombinationen einnehmen: 0-0, 1-1, 0-1 oder 1-0. Zwei Qubits hingegen können wegen ihrer quantenmechanischen Fähigkeiten alle vier Zustände zur selben Zeit einnehmen. Vier Qubits können die Zustände von 16 Bits abbilden, 20 Qubits könnten bereits die potenziellen Zustände von mehr als einer Million Bits einnehmen. Die Rechenkraft der Qubits steigt durch ihre Superpositionsfähigkeit exponentiell.
Hartmut Neven und sein Team arbeiten gerade mit einem Quantencomputer, in dem 72 Qubits zusammengeschaltet sind. Das ist eine Kunst, und Fachleute staunen darüber. Die Qubits rechnen nämlich nur dann richtig, wenn sie nicht gestört werden. Der Quantencomputerchip in Kalifornien ist deshalb von einer magnetischen Metalllegierung umgeben, die störende äußere Einflüsse vom Qubit-Chip abhält. Der Rechner hängt gefedert, damit er nicht erschüttert wird. Er arbeitet im Vakuum und wird bis auf den absoluten Nullpunkt bei minus 273 Grad gekühlt.
Wie kam Hartmut Neven dazu, am Computer der Zukunft zu arbeiten? Der gebürtige Aachener studierte Physik und Wirtschaft, schrieb seine Doktorarbeit an der Bochumer Ruhr-Universität und war Informatikprofessor an der University of Southern California, wo er sich zuletzt mit Mensch-Maschine-Interaktionen befasste. Hartmut Neven mag diese Schnittstellen. Schon in seiner Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen interessierte er sich für die Grundlagen der Objekterkennung: Kann man Computern beibringen, Dinge so zu erkennen wie Menschen?
Hartmut Neven ist nicht nur neugierig, sondern auch umtriebig und gründete zwei Unternehmen, die sich mit maschinellem Sehen befassen. Eines davon, Neven Vision, wurde vor dreizehn Jahren von Google gekauft. Auch beim neuen Arbeitgeber blieb Neven seiner alten Leidenschaft treu: Er war maßgeblich an der Entwicklung von Google Glass beteiligt, einer Brille mit integriertem Computer, die durch Sprache gesteuert wird. Seit vielen Jahren widmet er sich nun schon der Entwicklung des Quantencomputers.
Und was ist künftig von universellen Quantencomputern im Regelbetrieb zu erwarten? Quantencomputer könnten besonders gut in Bereichen eingesetzt werden, in denen hochkomplexe Simulations- oder Optimierungsaufgaben gelöst werden müssen. Hartmut Neven zufolge könnte ein solcher Quantencomputer durch Simulation auf molekularer Ebene zum Beispiel Autobauern bei der Entwicklung neuer Werkstoffe für Elektrobatterien helfen. Quantencomputer könnten zukünftig auch dazu beitragen, neue Medikamente zu entwickeln oder den Straßenverkehr durch komplexe Simulationen zu optimieren.
Experten schätzen, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis ein solcher universell einsetzbarer, fehlerkorrigierter Quantencomputer Wirklichkeit sein wird. Er wird herkömmliche Supercomputer auch nicht ersetzen, sondern in Spezialbereichen ergänzen. Die im Oktober erreichte Quantenüberlegenheit ist ein wichtiger Schritt – auch wenn die Quantenforscher-Gemeinschaft noch viel Entwicklungsarbeit vor sich hat.
Der Meilenstein im Video
Lernen Sie Hartmut Neven, seine Kollegen und die Geschichte hinter der Nachricht von der Quantenüberlegenheit in diesem YouTube-Video kennen: »Demonstrating Quantum Supremacy«.
Fotografie: Graham Walzer (2), Google LLC