Modelle von morgen
Was muss in Forschung und Lehre passieren, damit Hochschulen Digitalisierung aktiv mitgestalten? In Hamburg gibt es darauf schon einige Antworten
Der Hamburger Stadtteil Groß Borstel liegt vor Gesa Ziemer im CityScienceLab auf einem küchentischgroßen Display. Ein Modell, gebaut aus Millionen von Daten zur sozialen Infrastruktur. »Diese Daten sammeln Schul-, Sozial-, Gesundheits-, Finanz- und Verkehrsbehörden normalerweise einzeln für sich«, erklärt Ziemer, Direktorin des Stadtplanungslabors der HafenCity Universität (HCU). In einem Gemeinschaftsprojekt mit dem Landesbetriebs für Geoinformation und Vermessung (LGV) bringt der Urban Data Hub die einzelnen Datensilos nun erstmals zusammen und wertet sie für eine effiziente Stadtplanung aus.
Denn je nachdem, welches Knöpfchen man drückt, leuchten Schulen, Kitas, Supermärkte, Radwege, Buslinien, Stauschwerpunkte und Grünflächen auf. Dadurch wird sichtbar, ob etwas fehlt oder was in Zukunft fehlen könnte. Zum Beispiel, wenn am Tarpenbeker Ufer die geplanten 750 Neubauwohnungen stehen und es dann mit Kitaplätzen eng wird. Für das Projekt der Hamburger Metropolenforscher interessieren sich mittlerweile sogar die United Nations. Das CityScienceLab, eine Kooperation mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), ist ein Aushängeschild für die geglückte digitale Transformation, die von Universitäten heute oft gefordert wird. Es geht dabei um die Frage, wie stark sich Forschung und Lehre wandeln müssen, um mit der Digitalisierung des Alltags und der Arbeitswelt nicht nur Schritt zu halten, sondern sie mitzugestalten. Die HCU hat sich die Antwort darauf schon früh gegeben: Pünktlich zur Eröffnung des CityScienceLab 2015 hatte die Flüchtlingswelle Hamburg erreicht. Aus dem Stand suchte man am digitalen Tisch zusammen mit Bürgern nach Flächen für Unterkünfte, was der Stadt die EU-Auszeichnung Good Practice City einbrachte.
In FabLabs können Studenten an digitalen Prototypen basteln
Digitalisierung und Informatik werden künftig mehr oder weniger alle Berufszweige durchdringen. Darauf hat man sich auch an der Technischen Universität Hamburg (TUHH) eingestellt. Zwei Bachelor-Studiengänge bereiten darauf vor: Im Studiengang Computer Science werden Informatik, Software- und Hardwaretechnik mit den Wahlschwerpunkten Computational Mathematics oder Computer Engineering verknüpft. In Informatik-Ingenieurswesen gesellt sich Informatik zu Elektrotechnik, Mechanik und Ingenieurmathematik. Die Berufsaussichten schätzt die TUHH nicht weniger als glänzend.
Um nicht in der Theorie zu verharren, können die Studenten im angeschlossenen Forschungslabor FabLab@TUHH ihre Produktideen in digitale Prototypen verwandeln – und im Fertigungslabor mit Lasercutter und 3-D-Drucker auch real verwirklichen. Der FabLab-Leiter Arthur Seibel entwickelte dort 2018 mit seinem Studienkollegen Lars Schiller den weltweit ersten Soft Robot zum Erklimmen schiefer Ebenen. Eine Art Gecko aus weichem Material, der Steigungen von bis zu 84 Grad schafft. Seibel stellte ihn gerade auf der RoboSoft-Messe in Seoul vor.
Ein anderes TUHH-Team arbeitet seit 2013 an der Entwicklung humanoider Roboter: Die HULKs – Abkürzung für Hamburg Ultra Legendary Kickers – stellen ihre Fortschritte jedes Jahr auf dem RoboCup vor, der Weltmeisterschaft der Fußballroboter. Das hochschuleigene Rennteam e-gnition dagegen befährt seit 2011 die großen europäischen Rennstrecken im Rahmen der Formula Student mit selbst entwickelten Elektroautos. Seit in Hockenheim vor zwei Jahren die Sparte Driverless Teams dazukam, veranstaltet die TUHH den Autonomous Racing Workshop, bei dem jährlich 150 Studenten aus sechs Ländern gemeinsam an Lösungen für autonomes Fahren tüfteln. Wer solange noch selbst Auto fährt, aber dabei immerhin nicht mehr aufs Navi linsen muss, hat das vielleicht zwei Studenten der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) zu verdanken. Sie entwickelten im Mechatronik-Master ein Navi, dessen Bild direkt auf der Windschutzscheibe auf Basis von Mixed Reality statt per Projektion gezeigt wird. Dafür gab es im April das EXIST-Gründerstipendium der Regierung in Höhe von 120 000 Euro.
Die Plattform ahoi-digital will die Hochschulen vernetzen
Das Herzstück der Digitalisierung an der HAW bildet seit 2017 jedoch der Creative Space for Technical Innovations, kurz CSTI. Dabei handelt es sich um eine interdisziplinäre Forschungsplattform aus den Bereichen Technik, Kunst und Kultur, Ideenschmiede und Prototyp-Werkstatt. Derzeit finden dort unter anderem Deep-Learning-Experimente zur automatischen Textzusammenfassung mit dem Datenkorpus der Deutschen Presse Agentur (dpa) statt. Ein Virtual Reality-Team will das Problem lösen, ohne Motion Sickness, also Bildschirm-Schwindelgefühle, virtuell Wände hochzulaufen. Bereits abgeschlossen ist das Projekt Ivory: ein eiförmiges, gefiedertes Smart Object, das den Feinstaubgehalt in der Luft misst und zu zwitschern aufhört, wenn ein gesundheitlich bedenklicher Wert erreicht ist. Ivory wurde von CSTI-Leiter Kai von Luck, Susanne Draheim und Jessica Broscheit soeben auf einer der führenden Technik-Konferenzen in Arizona vorgestellt. Ein Kreativlabor gibt es seit Herbst 2018 auch am Fachbereich Informatik der Uni Hamburg: Das sogenannte base.camp ist unter anderem auf Big-Data-Anwendungen und künstliche Intelligenz fokussiert. Ein Projekt dort versucht derzeit die Barcodes auf Fleischprodukten mit Bildern vom Leben der Tiere am jeweiligen (Bio-)Hof zu verbinden. Besonders stolz ist das Präsidium auf den Master-Studiengang IT-Management und -Consulting (ITMC). 40 Studenten lernen dabei nicht nur Theorie, sondern wenden das Gelernte in Praxismodulen bei insgesamt 20 Förderunternehmen an.
Die Hamburger Hochschulen kochen aber nicht nur ihr eigenes Digital-Süppchen. 2017 initiierte die Behörde für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung die Informatikplattform ahoi.digital zur Vernetzung der Hochschulen, die gemeinsame Forschungsprojekte anschieben und Kontakte zur Wirtschaft ausbauen wollen. Gleichzeitig soll der Wissenstransfer in die Gesellschaft verstärkt werden. Und auch hier bewährt sich die Digitalisierung. Das Projekt Hamburg Open Science (HOS) will Forschungsergebnisse künftig für jedermann online zugänglich machen. Schon jetzt funktioniert die Lernplattform Hamburg Open Online University (HOOU): Wer immer schon mal etwas über „die Trompete als Orchester- und Soloinstrument“ oder „Mikroben im Einsatz“ wissen wollte, findet unter www.hoou.de den passenden Aufsatz frei verfügbar.
Fotografie: Charlotte Schreiber