Willkommen in der Zukunft
Im Epizentrum der digitalen Ideen: Das Google Culturale Institute in Paris
Touristen laufen eifrig mit Kameras umher, Fahrräder zirkeln durch die engen Straßen, Autos hupen, gerade steigt eine Reisegruppe am Place Pigalle aus einem Bus. Kurz: Hier, im neunten Pariser Arrondissement, gibt es viel zu sehen. Zum Beispiel das Wachsfigurenkabinett im Musée Grévin, das Opernhaus oder die Galeries Lafayette. Kultur- und Konsumtempel stehen hier ganz nah beieinander. Das Viertel ist ein zuverlässiger Magnet für Paris-Besucher. Neben all den Sehenswürdigkeiten gibt es aber noch einen anderen Ort, der für eine bestimmte Gruppe Menschen von allergrößtem Interesse und nur auf Einladung zugänglich ist: Googles Frankreich-Zentrale liegt nur wenige Gehminuten entfernt. Künstler, Ingenieure und Programmierer geben sich hier, in einem prachtvollen Stadtpalais aus dem 19. Jahrhundert, die Klinke in die Hand.
Neben dem Kerngeschäft beherbergt die Pariser Niederlassung eine ganz besondere Unternehmenssparte: das sogenannte Google Cultural Institute Lab. Das Engagement in der Kunstwelt ist für den Konzern gar nicht so abwegig, wie es sich im ersten Moment vielleicht anhören mag. Schließlich ist es genau das, was Google ausmacht: Das Wissen der Welt und somit auch Kultur zu organisieren, zu demokratisieren und für so viele Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Dabei geht es Google aber nicht nur darum, Inhalte online zu stellen, wie Pierre Caessa sagt, „sondern auch darum, die Grenzen dessen zu erweitern, was Technologie für Kunst tun kann“. Caessa ist Program Manager im Google Cultural Institute Lab und erinnert sich noch ganz genau, wie er seine Arbeit aufnahm. Damals, vor knapp sechs Jahren, hatte man 17 unterschiedliche Partner, ausschließlich im Bereich bildender Künste. Mittlerweile arbeitet man mit 1200 Museen aus 70 Ländern zusammen, von den großen Häusern in New York, Paris und Berlin bis hin zu Provinzmuseen in Indonesien – mehr als sechs Millionen (Kunst-)Objekte sind bereits online verfügbar.
Was, wenn die Besucher ausbleiben? Welche Besucher?
Bis dahin war es ein langer Weg. In ihren Verhandlungen mit den Museen und Kultureinrichtungen sind die Mitarbeiter des Instituts immer wieder auf die gleichen Vorbehalte gestoßen. Dass die Besucher ausbleiben würden, wenn die gesammelten Werke erst einmal online sind. Dass man dann keine Kunstdrucke und Bildbände und Postkarten verkaufen würde, wenn sich das jeder zu Hause ausdrucken kann. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Fall noch nie eingetreten ist. Im Gegenteil. Es deutet vieles darauf hin, dass Online-Ausstellungen auf „Google Arts & Culture“ das Interesse der Besucher wecken, diese auch analog anzusehen.
Caessa stoppt den Besucher bei der ersten Attraktion, dem Big Wall Room: ein aus Dutzenden HD-Monitoren zusammengesetzter Riesenbildschirm, der einen ganzen Raum einnimmt. Am liebsten führt Caessa unbedarften Besuchern an der Wand das Foto eines Chagall-Gemäldes vor. Im Original ist es an die Decke der Pariser Oper gemalt, auf 220 Quadratmetern sehen es die Besucher in 20 Meter Höhe über ihren Köpfen. Vor Ort muss man sich den Hals verrenken und hat doch niemals einen so guten Blick auf das Gemälde wie hier vor der Big Wall. In Wahrheit ist das Bild eine Komposition von Zehntausenden Einzelaufnahmen, es erlaubt eine nie dagewesene Detailtreue. Das, sagt Caessa, ist genau der Sinn und der Zweck des Google Cultural Institute Lab: Es soll einen neuen Blick auf vermeintlich Bekanntes ermöglichen.
Google hat eine Menge Ideen, wie man diese neue Sichtweise unter die Leute bringen kann. In der Ecke stehen ein paar der Kameras, die Kunstwerke abfotografieren. Zeit für einen Selbstversuch, sagt Caessa, und meint natürlich den Besucher. Eine VR-Brille wird über den Kopf gezogen, und man bekommt zwei drahtlose Controller in die Hände gedrückt. Sie sind das moderne Äquivalent von Palette und Pinsel, von Hammer und Meißel. Denn, das wird schnell klar, genau das ist die Essenz von Tilt Brush, einem Virtual-Reality-Programm, das teilweise hier entwickelt wurde. Der User kann mittels der Controller selbst malen und modellieren. Das erfordert ein bisschen Übung, die Bewegungen sind noch ungewohnt. Spaß macht es aber von der ersten Sekunde an.
„Viele Künstler kommen zu uns, ohne jemals zuvor mit Virtual Reality zu tun gehabt zu haben“, sagt Caessa. Innerhalb eines Tages hätten sie die neue Technologie gemeistert. Weil sie eben nicht nur unheimlich eindrucksvoll ist, sondern auch sehr intuitiv. Man hat Schwierigkeiten, Caessas Stimme zu verorten. Durch die Brille sieht man nur einen dunklen Raum, eingegrenzt durch ein Gitter aus Licht. Mit weit ausholenden Armen zieht man die ersten unbeholfenen Striche in die Dunkelheit. Es erscheinen Linien, die lodern wie Feuer oder glitzern wie die Explosion einer Silvesterrakete. Noch nie wirkten computergenerierte Effekte so nah, so lebendig. Leider hält die eigene Kunstfertigkeit nicht mit den Möglichkeiten der Technologie mit. Ein windschiefes Häuschen hat man gezeichnet. Sehr viel eleganter sind die Profi-Virtual-Reality-, ja was eigentlich? Gemälde? Installationen? Im Angesicht der neuen Möglichkeiten ist man tatsächlich sprachlos. Noch fehlen die Worte für diese neue Art von künstlerischem Schaffen. Kein Wunder, dass Branchenmedien Tilt Brush bereits als »Killerapplikation« für die Virtual Reality bezeichnet haben. Als jene Anwendung also, die dem neuen Medium den Durchbruch in den Massenmarkt ermöglichen wird.
Gibt es so etwas wie eine Kreativitätsformel, die sich durch die Jahrhunderte zieht?
Über eine enge Treppe geht es dann zum Workshop Space. Hier sitzt Cyril Diagne vor seinem Laptop und arbeitet daran, den Kunst-Output der Menschheit der letzten paar Tausend Jahre zu organisieren. Naturgemäß bewegt man sich im Lab immer ganz nah der technischen Avantgarde. Die heißt in den letzten Jahren „Machine Learning“ und „Künstliche Intelligenz“. Die Grenzen zwischen Code und Kunst, zwischen Programmierer und Künstler, sie beginnen zu verschwimmen. Genau deshalb bietet Google in seinem Lab ein Artists-in-Residence-Programm für Künstler, für die das Internet ebenso natürlicher Lebensraum wie Quelle für Inspiration ist. Mit diesen arbeitet Creative Coder Cyril Diagne, Anfang 30, Absolvent der Medienkunsthochschule „Gobelins“.
Das Lab ist mitnichten ein steriles Laboratorium, sondern eine handfeste Werkstatt. In der Ecke steht ein 3-D-Drucker, daneben ein Lasercutter und ein Dutzend Lötkolben und halb leere Spraydosen. Generell weht ein Hauch des Unfertigen durch die Flure, es wirkt nicht unbedingt so, wie man sich das Kulturprojekt eines Weltkonzerns vorstellen würde: Blumenkübel hängen mitten im Raum von der halb offenen Decke, in der Ecke steht ein etwas derangiert aussehender Roboter, dem ein Arm fehlt. Ist das Kunst, oder kann es weg? Auf einem Tisch steht, ebenfalls wie bestellt und nicht abgeholt, ein altes Stereoskop aus Holz. Wenn man so will, handelt es sich dabei um die frühe Entsprechung einer 3-D-Brille. In einen Schlitz werden bedruckte Glasscheiben gesteckt, blickt man durch die Linse, sieht man das räumliche Abbild einer Straßenszene aus dem Paris der Jahrhundertwende. Für die Menschen damals muss sich das angefühlt haben wie Magie.
Kann moderne Technik auch heute noch ein solches Gefühl auslösen? Direkt neben dem Stereoskop liegt ein Google Cardboard. Die faltbaren Halterungen aus Karton, mit denen das eigene Smartphone zur Virtual-Reality-Brille wird, sind hier im Lab entwickelt worden. Wie auch das Cultural Institute selbst entstammen sie dem 20-Prozent-Projekt eines Mitarbeiters. Jener legendären Regel also, die besagt, dass Google-Angestellte ein Fünftel ihrer Arbeitszeit dafür nützen können, eigene Ideen und Interessen zu verfolgen und zu verwirklichen. Mittlerweile sind die Papp-Brillen viel mehr als nur eine Spielerei: 16 Millionen Stück wurden bereits produziert, sie sind ein günstiges Hilfsmittel, um so vielen Menschen wie möglich einen Einblick in das neue Medium Virtual Reality zu geben.
Es gibt viele Beispiele, wie aus einer im Lab geformten Idee erst eine Spielerei und dann tatsächliche Hardware entstanden ist. Was ihn von Beginn an fasziniert hätte, sagt Diagne, Sneaker an den Füßen und ein stetes Lächeln im Gesicht, sei das schiere Ausmaß der gesammelten Daten gewesen und die Verbindungen, die sich zwischen ihnen ergeben. Welche Muster zeigen sich? Gibt es sogar so etwas wie eine Kreativitätsformel, die sich durch die Jahrhunderte zieht? Solche Fragen können einen Menschen angesichts der Millionen von gesammelten Objekten schon mal überfordern. Also ließen Diagne und zwei seiner Kollegen einen Algorithmus die Sortierarbeit erledigen. Heraus kam ein Projekt mit dem Namen „t-SNE Map“: Ein Mausklick, und die Bildminiaturen organisieren sich: Je ähnlicher sich zwei Werke sind, desto näher zusammen sind sie arrangiert. Wie eine weite Landschaft sehen sie nun aus, die einzelnen Stilrichtungen bilden steile Berge und Täler und weite Ebenen. Hier sämtliche Stillleben, dort die Porträts. So entsteht eine Mischung aus Google Earth und Kunstalmanach.
Kaum ein Projekt bringt dieses Neuentdecken von Altbekanntem so gut auf den Punkt wie das Programm „X Degrees of Separation“ des deutschen Künstlers und Programmierers Mario Klingemann. Er hat sich gefragt, was passiert, wenn man das alte Bonmot, dass ein jeder Mensch jeden anderen Menschen auf der Welt über sechs Ecken kennt, auf Kunstwerke anwendet. Per Mausklick wählt man Ausgangs- und Zielobjekt, der Algorithmus erledigt den Rest: In sechs Schritten werden die Kunstwerke einander immer ähnlicher. Was verbindet eine afrikanische Kriegsmaske mit japanischen Holzschnitten? Was eine vorgeschichtliche Lehmfigurine und van Goghs berühmte Sternennacht? Welche Gemeinsamkeiten findet der Computer zwischen Bruegels d. Ä. Großer Turmbau zu Babel und brasilianischer Street Art? Die Antworten sind oft erstaunlich und gehen nicht unbedingt mit der Meinung eines Kunsthistorikers gemein. Aber sie eröffnen einen neuen Blick. Und dafür ist Paris ja seit Menschengedenken bekannt: Dass neue Blickwinkel ganze Revolutionen vom Zaun brechen können. Wo also, wenn nicht hier, in der Rue de Londres? Und wann, wenn nicht jetzt?
Fotografie von Stéphanie Füssenich