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»Wir entwickeln Technik am Limit«

Wie an Münchner Hochschulen Entwicklungen für unser künftiges Leben entstehen – und für Astronauten

Eines von Johannes Betz’ Testfahrzeugen ist ein Modellauto in Schuhkartongröße, das mit einem Laserscanner und einem Radar ausgerüstet ist. Auf der Platine im Inneren sitzt ein Chip, den Betz so programmieren will, dass das Modellauto vollautomatisch und ohne jede menschliche Hilfe fährt. Dazu muss es eigenständig beschleunigen und bremsen, aber auch Kurven nehmen, Routen planen, andere Autos überholen oder Hindernissen ausweichen können. Nicht nur in diesem Modellauto, auch in einem ausgewachsenen Rennboliden mit Elektromotor kommt das autonome Fahrsystem zum Einsatz. Betz nimmt damit an einer Rennserie namens Roborace teil, in der vollautomatische Rennautos gegeneinander antreten.

»Wir entwickeln Technik am Limit«, sagt Betz, ein junger Wissenschaftler, der das Roborace-Team an der Technischen Universität (TU) München leitet. Die sechs Doktoranden, die mit ihm das autonome Rennfahrsystem entwickeln, arbeiten an den Lehrstühlen für Fahrzeugtechnik und für Regelungstechnik und schreiben über Roborace auch ihre Dissertationen. Meist sitzen sie in einem fensterlosen Raum vor sechs Bildschirmen, programmieren die intelligente Software und testen sie mit einem Simulator. Einmal im Monat reisen die Roboracer auch zu einer Teststrecke in England oder nehmen an einem Rennevent teil. »Roborace befindet sich noch in der Aufbauphase«, erklärt Betz. Einen eingespielten Wettbewerbsbetrieb wie in der Formel 1 gibt es derzeit nicht.

Johannes Betz und sein Team arbeiten an einem autonomen Fahrsystem für Rennautos.

Längst beschäftigen sich an den Münchner Hochschulen nicht nur Informatiker mit digitalen Technologien. Wer zum Beispiel an der TU das Masterprogramm Automotive Engineering studiert, kann dort auch Kurse zur Softwareentwicklung belegen. Das Thema »autonomes Fahren« begeistert die Studierenden, beobachtet Johannes Betz: »Sie bekommen den Hype ums autonome Fahren mit und orientieren sich danach.«

Nicht nur für die Autoingenieure von morgen, auch für Touristik-, Betriebswirtschaft- oder Design-Studierende kann es sinnvoll sein, sich mit neuen digitalen Technologien vertraut zu machen. Das finden jedenfalls Holger Günzel und Lars Brehm, die als Professoren für Betriebswirtschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München tätig sind. Zusammen haben sie das Learning Lab »Digital Technologies« ins Leben gerufen, in dem Studierende aus nicht technischen Fachrichtungen Erfahrungen mit Softwareprogrammierung, digitaler Datenanalyse, Virtual Reality oder 3-D-Druck sammeln können.

Entwickeln gemeinsam mit anderen ein vollautomatisch fahrendes Auto: Johannes Betz (rechts) im Gespräch mit einem Doktoranden.

»Ich habe in meinen Kursen gemerkt, dass viele Studierende mit Digitalthemen fremdeln – was insofern problematisch ist, als sie im Arbeitsleben immer mehr an Bedeutung gewinnen«, so Günzel. Was ein Roboter oder künstliche Intelligenz ist, sei schnell erklärt. Damit Studierende aber auch ein Gefühl für die Funktionsweise und die Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien entwickeln, können sie im Learning Lab konkret und selbstbestimmt mit ihnen arbeiten. »Wir wollen digitale Technologien mit allen Sinnen erfahrbar machen«, sagt Brehm. »Wir glauben, dass unsere Studierenden sie so am besten verstehen.«

Wir wollen digitale Technologien mit allen Sinnen erfahrbar machen

Lars Brehm Professor für Betriebswirtschaft Hochschule München

In den Workshops programmieren Studierende zum Beispiel einen Spielzeugroboter so, dass er eine bestimmte Strecke abfährt. Sie stellen mit dem 3-D-Drucker Gegenstände her oder verschalten Sensoren mit einem Minicomputer, um die Grundlagen des Internets der Dinge kennenzulernen. Und wenn die Studierenden in Gruppenarbeit selbstorganisiert Projekte umsetzen, lernen sie auch die Grundprinzipien des agilen Projektmanagements. Laut Brehm und Günzel bereiten die praxisorientierten Workshops den Teilnehmern viel Spaß – Lehrkräfte von anderen Hochschulen haben das Konzept schon übernommen.

Die Informatiker der LMU zählen zur Spitze

Die Münchner Hochschulen sind demnach geübt darin, die Grundlagen der Digitalisierung zu vermitteln. Aber auch die Spitzenforschung ist an der Isar zu Hause. Die Informatiker der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) verweisen online darauf, dass sie sowohl bei der Anzahl der Publikationen pro Professor als auch bei der Anzahl der Zitierungen deutschlandweit zur Spitze gehören; am Competence Center Wirtschafts­informatik beschäftigen sich Professoren der Hochschule für angewandte Wissenschaften mit der Entwicklung sogenannter verteilter Anwendungen – die wenigsten Softwaresysteme liegen heute auf nur einem einzigen Server; Robotikforscher Sami Haddadin, ausgezeichnet mit dem Deutschen Zukunftspreis, ist nur einer von vielen Wissenschaftlern, die an der TU auf Weltniveau forschen.

Will Technik praktisch erfahrbar machen: Betriebswirtschaftsprofessor Holger Günzel und Studentinnen im Learning Lab »Digital Technologies«.

Weltweite Beachtung fand auch der erste fliegende und autonom agierende Weltraumroboter, den das Unternehmen Airbus im Auftrag des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt baute: Cimon, so der Name, steht für Crew Interactive Mobile Companion. Der Roboter erinnert an Professor Simon Wright aus der Science-Fiction-Serie Captain Future. Er unterstützt Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS bei Routinearbeiten und kommuniziert mit ihnen. Für die Gespräche greift Cimon auf Watson zu, ein von IBM entwickeltes Computerprogramm aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz.

Astronaut Gerst hatte Freude an Cimon

Dr. Judith-Irina Buchheim und Professor Alexander Choukèr arbeiten als Anästhesiologen am Klinikum Großhadern der LMU und forschen in der Raumfahrtmedizin unter anderem zu der Frage, wie sich Stress unter Extrembedingungen auf das Immunsystem auswirkt. Buchheim und Choukèr verantworten die wissenschaftlichen Tests mit Cimon und stehen bei der Entwicklung der menschlich-kommunikativen Aspekte beratend zur Seite. »Wenn ­Cimon beim Videofilmen helfen oder eine Reparaturanleitung vorlesen könnte, würden die Astronauten viel Zeit sparen«, sagt Buchheim. »Außerdem wollen wir mit seiner Hilfe die Gruppendynamik auf der ISS beeinflussen.« Geplant sei etwa, Cimon einen »Kumpelcharakter« anzutrainieren. »Es handelt sich um ein selbstlernendes System – aber eines, dessen Entwicklung wir kontrollieren«, so Judith-Irina Buchheim.

Wenn Cimon beim Videofilmen oder eine Reparaturanleitung vorlesen könnte, würden die Astronauten viel Zeit sparen

Dr. Judith-Irina Buchheim Anästhesiologin Klinikum Großhadern/LMU

Der erste Test fand im vergangenen November statt. Der deutsche Astronaut Alexander Gerst nahm die Anwendung in Betrieb und verwickelte Cimon in ein Gespräch. Dass der Flugroboter mit Sprachassistenzsystem nach nur zweieinhalb Jahren Entwicklung fehlerfrei funktionierte, war genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass der Austausch mit dem Roboter dem Astronauten sichtbar Spaß machte. »Am Ende fragte Herr Gerst spontan nach der nächsten Begegnung mit ihm«, erinnert sich Buchheim. »Das hat uns natürlich gefreut.«

Ganz allein könnten Informatiker ein komplexes System wie Cimon nicht entwickeln. Es braucht nun einmal Mediziner, um die Auswirkungen seines Einsatzes auf die Gesundheit der Astronauten bewerten zu können. Die Entwicklung von Cimon zeigt beispielhaft, dass die Informationstechnologie in immer neuen Lebensbereichen Einzug hält – dass ihre Entwickler aber immer häufiger auf die Expertise anderer Fachbereiche angewiesen sind, wenn ihre Ideen wirklich wirksam werden sollen. Für solch interdisziplinäre Arbeit sind Hochschulen mit ihrer großen Bandbreite an unterschiedlichen Fakultäten ideal geeignet.

Der Forscher und Roboracer Johannes Betz glaubt, dass die akademische Forschung bei der Entwicklung digitaler Technologien eine wichtige Rolle spielt. Zwar haben milliardenschwere Auto- oder Internetkonzerne größere Forschungsbudgets als das Roborace-Team, doch die akademische Forschung sei flexibler und agiler und könne auch unkonventionelle Ansätze ausprobieren. Mithilfe dieser Lust am Experiment will Betz nicht nur den autonomen Rennsport voranbringen, sondern auch einen Beitrag zur Entwicklung des autonomen Fahrens für den Straßenverkehr leisten. »Der Rennsport half schon immer bei der Weiterentwicklung von Technologien. So soll es auch beim Roborace sein.«

Fotografie: Sima Dehgani (4), Johanna Weber/HM, DLR

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